Der spanische Fußball-Fan ist unzufrieden. Unzufrieden mit seiner Seleccion, aber vor allem unzufrieden mit Luis Enrique. Nach dem ernüchternden EM-Start mit zwei mageren Pünktchen durfte die Leserschaft der Marca bei einer Umfrage den Nationaltrainer bewerten. Das Ergebnis fiel eindeutig aus: Von mehr als 112.000 Teilnehmenden hatten am Montagmittag 87 Prozent mit "suspenso" abgestimmt, also "durchgefallen".
Nun ist die Marca kein Forschungsinstitut, das Ergebnis nicht repräsentativ und das alles bislang "nur" eine EM-Zwischenbilanz. Das Abstimmungsverhalten gibt aber zumindest ein gutes Gefühl dafür, wie das Klima im Land des dreimaligen Europameisters ist: schlecht. Die Tageszeitung As schrieb bereits von einer "Vertrauenskrise" im spanischen Verband. Im Mittelpunkt natürlich: Enrique.
Der 51-Jährige trat sein Amt nach dem Achtelfinal-Aus bei der WM 2018 an, um nach den Erfolgen der "goldenen Generation" zwischen 2008 und 2012 mit neuem Personal eine neue Erfolgs-Ära einzuleiten. Bislang festigt sich aber der Eindruck, dass der als Sturkopf bekannte Coach nicht die richtigen Lösungen findet, um aus der zweifellos vorhandenen spielerischen Klasse das Optimum herauszuholen.
Spanien dominierte seine beiden EM-Spiele zwar mit durchschnittlich 75 Prozent Ballbesitz, heraus kam dabei aber nur ein Tor beim 1:1 gegen Polen. Beim 0:0 zum Auftakt gegen Schweden hätte gut und gerne auch der Außenseiter gewinnen können. Ersatz-Kapitän Jordi Alba gelangte am Samstagabend in Sevilla dennoch zur bemerkenswerten Erkenntnis, dass es bislang "nicht so schlecht" laufe: "Wir glauben an die Arbeit von Luis Enrique."
Spanien bei der EM 2021: Die Stimmung ist angespannt
Doch das gilt laut As nicht mehr für alle im spanischen Verband, hinter vorgehaltener Hand sollen die Zweifel am Trainer größer werden. Angriffsfläche bietet dieser genug.
So nominierte Enrique etwa keinen einzigen Spieler von Rekordmeister Real Madrid in sein nur 24-köpfiges Aufgebot, in dem also noch zwei Plätze frei wären - etwa für einen Sergio Ramos, den Kapitän und Anführer des Teams, den Enrique wegen Trainingsrückstands lieber zu Hause ließ. Auch die Auswechslungen seiner gesamten Sturmreihe gegen Polen, als Spanien dringend ein Tor benötigte, stieß auf Unverständnis. Zudem saß ein Kreativspieler wie Thiago 90 Minuten draußen.
Die Stimmung ist angespannt, die Unterstützung der kritischen spanischen Fans bröckelt. "Normalerweise steht bei solchen Turnieren alle Welt hinter ihrer jeweiligen Mannschaft...", erwähnte Alvaro Morata nach erneuten Pfiffen vielsagend. Der Stürmer ist die tragische Figur in Enriques Team: Der Coach hielt nach großer Kritik an Morata fest, der dankte es mit dem Tor gegen Polen, war nach weiteren vergebenen Großchancen dann aber doch wieder der Verlierer und unrühmlicher Hauptdarsteller in zynischen Internet-Clips.
Enrique spürt aber keine Frustration oder Resignation. "Ich spüre Hoffnung", versicherte er nach dem Polen-Spiel. Allerdings können viele Spanier derzeit einzig aus der Ausgangslage etwas Positives ziehen: Mit einem Sieg gegen die Slowakei am Mittwoch (18 Uhr im Liveticker) wäre der Einzug ins Achtelfinale sicher. Dieser scheint gegen den Weltranglisten-36. aber keine Selbstverständlichkeit zu sein.