SPOX: Herr Krawietz, die Europameisterschaft ist vorüber. Diskutabel bleibt sicherlich der neue Modus. Der Vorwurf lautet, er würde risikoarme, taktisch vorsichtige Spiele fördern. Welche Meinung haben Sie?
Peter Krawietz: Ich befürworte einen simplen Modus, bei dem klar ist, dass die beiden Ersten einer Gruppe weiterkommen und die beiden Letzten ausscheiden. Die Vergleichbarkeit zwischen den einzelnen Gruppendritten ist schwierig, da sie ja schlicht und ergreifend nicht gegen dieselben Gegner gespielt haben. Das halte ich für unglücklich. Zudem ist unter solchen Voraussetzungen ein Sieg im ersten Gruppenspiel schon fast die Fahrkarte für die nächste Runde, den Rest schaukelt man dann irgendwie halbwegs vernünftig über die Bühne. Das trägt nicht unbedingt zu attraktiven Partien bei. Viel wichtiger jedoch: Wir sind in Sachen Belastung der Spieler längst am absoluten Limit angekommen, ein Turnier daher noch umfangreicher zu gestalten, geht eigentlich nicht.
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SPOX: 24 Mannschaften nahmen teil, 51 Spiele sind gespielt worden. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Krawietz: Viele Spiele hatten eine klare Rollenverteilung: Die eine Mannschaft hatte die Aufgabe, das Spiel zu machen, die andere hat ihr Heil in einer sehr kompakten Defensive gesucht und aus dieser Stabilität heraus versucht, Gegenangriffe zu starten. Ich schaue dann viel eher auf kleine Details. Heißt: Ob man aus bestimmten Abläufen etwas lernen kann, sich in gewissen Ideen bestätigt sieht oder es überraschend neue Lösungsansätze für Situation XY gibt.
SPOX: Gibt es etwas, das Sie bestätigt hat?
Krawietz: Ich habe etwas verstärkt darauf geachtet, wie nach erfolgreichen Eins-gegen-eins-Situationen und damit Flügeldurchbrüchen die Folgeaktion in Bereichen nahe der Grundlinie aussah. Wie entstehen also diese Situationen, um von der Grundlinie aus einen Mitspieler anspielen und dann einen freien Torschuss haben zu können?
SPOX: Und?
Krawietz: Diese Situationen stehen und fallen mit dem Anlaufen des ersten Pfostens, das so ein bisschen aus der Mode gekommen ist. Man sollte versuchen, mit mindestens einem Spieler den ersten Pfosten richtig zu attackieren, um in der komprimierten Mitte mit einer massiven Bewegung freie Räume zu schaffen. Dies war zumindest auffällig, wenn man sich die erfolgreichen Flügeldurchbrüche und ihre Anschlussaktionen angeschaut hat. Das hat mich insofern bestätigt, da wir dies unseren Spielern auch zu vermitteln versuchen.
SPOX: Eine vermeintlich neue taktische Idee wie die falsche Neun der Spanier bei der EM 2012 sahen Sie demnach nicht?
Krawietz: Nein. Die Nationaltrainer können aufgrund des dichten Rahmenterminkalenders meist ohnehin nur auf das zurückgreifen, was im Vereinsfußball in irgendeiner Form schon geschehen ist. Man hat nicht die Möglichkeit, seiner Mannschaft in einer drei- oder vierwöchigen Vorbereitung etwas komplett Neues zu vermitteln, wovon zuvor noch niemand gehört hat. Im Gegenteil: Jeder Trainer versucht, möglichst viele Automatismen aus dem Vereinsfußball zu übernehmen und sie mit seiner Auswahl zusammenzufügen.
SPOX: Gegen die zahlreichen defensiv eingestellten Teams wurde diesmal häufig mit dem klassischen Mittelstürmer, manche Mannschaften spielten auch mit zwei Angreifern, agiert. Was ist daraus abzuleiten?
Krawietz: Den einen triftigen Grund für solche Beobachtungen anzugeben ist schwierig. Fakt ist: Wenn hinten fünf Mann auf einer Linie verteidigen, sollte das Zentrum logischerweise dicht sein. Spielt man mit einer Fünferkette, organisieren dies viele Mannschaften so, dass einer der zentralen Verteidiger sehr hoch hinaus ins Mittelfeld verteidigt. Die Schnittstellen können dann dennoch eng gehalten werden und man kann einen entgegenkommenden Stürmer richtig verteidigen und verfolgen, ohne das Spiel in die Tiefe anzubieten.
SPOX: Die Gegenmaßnahme wäre also, Stürmer aufzubieten, die über die Außen mit Flanken gefüttert werden?
Krawietz: Ja, der Flügelangriff ist quasi alternativlos. Sonst blieben nur noch der Fernschuss oder ein riskanter Ball hinter die letzte Linie, der allerdings auch ein perfektes Timing erfordert und letztlich leicht ausrechenbar wäre. Bricht man über den Flügel durch, ist man auf eine entsprechende Strafraumbesetzung angewiesen - und dann kann es sehr aussichtsreich sein, wenn dort von der Grundausrichtung her per se schon mal ein, zwei Stürmer plus nachrückende Spieler präsent sind.
SPOX: Bereits in der vergangenen Bundesligasaison war zu beobachten, dass einige Teams auf diese Mischform aus Fünfer- und Dreierkette setzten. Weshalb?
Krawietz: Man kann mit beiden Variationen ein richtiges Kontakt-Verteidigen sicherstellen und zudem noch variabel nach vorne spielen. Die Tendenz geht tatsächlich dahin, dass einer der Fünferketten-Außenverteidiger in der Offensive sehr hoch agiert, um seinen vermeintlichen Gegenpart auf der anderen Seite in der letzten Linie zu binden. Die Fünferkette muss somit kein reines Defensivkonzept sein, allerdings ist die Absicherung der eigenen Angriffe entscheidend.
SPOX: Inwiefern?
Krawietz: Wenn bei Ballbesitz letztlich beide äußeren Glieder der Fünferkette hoch aufrücken, bleiben hinten drei Mann übrig - das könnte bei Gegenangriffen gefährlich werden. Also sagt man, entweder bleiben einfach die Mittelfeldspieler stehen und sichern ab oder man platziert den zentralen Mann der Fünferkette situativ im Mittelfeld, um eine zusätzliche variable Anspielstation im Zentrum zu haben. Das muss funktionieren, sonst könnte man zu anfällig werden.
SPOX: Thema Flügeldurchbrüche: Bundestrainer Joachim Löw bemängelte, es gäbe zu wenig Tempodribbler, die sich im Offensivzweikampf durchsetzen könnten. Ist das wie Löw sagt ein Problem in der Ausbildung, da zuletzt vermehrt auf technisch sauberes (Flach-)Passspiel Wert gelegt wurde?
Krawietz: Das vermag ich gar nicht zu beurteilen. Die echten Eins-gegen-eins-Spieler sind jedoch fast immer richtig außergewöhnliche Talente. Diese Fähigkeiten strategisch auszubilden ist schwer. Ein Lionel Messi fällt sozusagen eben vom Himmel und dann ist er da und bringt diese Qualität mit. Die technische Ausbildung vieler Spieler ist in meinen Augen bereits sehr gut, es gibt kaum noch welche, die keine individuelle Waffe im Repertoire haben. Zumindest würde es derjenige, der sich in einem Eins-gegen-eins kein bisschen behaupten kann, nicht in den Profifußball schaffen. Andererseits: Wenn man einen ausgeprägten Dribbler im Team hat, bleibt es weiterhin die ganz große Kunst, ihn in einer Mannschaft funktionieren zu lassen. Auch ein solcher Spieler muss Defensivaufgaben erledigen und zeitgleich noch genügend Reserven mitbringen, um seine offensiven Stärken voll einzubringen.
SPOX: Der Bundestrainer wurde nach dem Spiel gegen Italien an mancher Stelle dafür kritisiert, seine Taktik dem Gegner angepasst zu haben. Kann man das einem Trainer wirklich zum Vorwurf machen?
Krawietz: Entscheidend für einen Trainer ist seine Einstellung zum Spiel und welchen Ansatz er grundsätzlich verfolgt: Will ich dominant sein oder will beziehungsweise muss ich besser dem Gegner das Spiel überlassen? Man kann eine Spielidee auch dann verfolgen, wenn man seine taktische Grundaufstellung den Begebenheiten anpasst. Es gilt letztlich von Spiel zu Spiel zu entscheiden, welche Maßnahmen gegen welchen Gegner hilfreich und erfolgsversprechend sind. Trainern sollte dahingehend vollkommen freie Hand gelassen werden, solche Anpassungen sind absolut nicht als Inkonsequenz zu deuten.
SPOX: Die EM hat auch das Analysetool "Packing" bekannt werden lassen. Was halten Sie grundsätzlich davon?
Krawietz: Wir selbst haben damit noch nicht gearbeitet. Es ist aber eine interessante Geschichte, weil es quantitative Erhebungen mit einer qualitativen Spielbeobachtungskomponente verbindet. Sprich: Man erhebt eine Zahl, gibt ihr aber gleichzeitig einen qualitativen Ausdruck. Das ist definitiv ein Mehrwert. Es ist ja ein Unterschied, ob ein Spieler den Ball mehrfach quer zum Mitspieler passt oder es mit einem Pass schafft, eine neue Spielsituation zu kreieren, indem er Gegner überwindet.
EM 2016: Alle Daten und Ergebnisse