EM

"Manndeckung pur und völlig daneben"

Von Interview: Haruka Gruber
Italiens Andrea Pirlo (2.v.l.) und Giorgio Chiellini spielten in der Vorrunde gegen Spanien 1:1
© Getty
Cookie-Einstellungen

SPOX: Pirlo und der Zweiersturm sind die Konstanten, egal ob Italien im 3-5-2 oder in der 4-4-2-Raute spielt. Aber welche Unterschiede gibt es zwischen den beiden Grundordnungen?

Wormuth: Entscheidend bei jeder Systemdiskussion, die sich nur auf die Grundordnung bezieht, ist die Frage nach Überzahl und Raum. Also: Wo könnten wir Überzahl haben und wo sind Räume frei oder zu? Im 3-5-2 wird der Flügel von einem Mittelfeldspieler bearbeitet. In der 4-4-2-Raute hingegen von einem Abwehrspieler. Dadurch ist die Laufwegbelastung im 3-5-2 für den Mittelfeldspieler nicht so hoch wie bei der 4-4-2-Raute, wo der Außenverteidiger die Bahn rauf und runter rennen muss. Ein weiterer Unterschied ist die Besetzung des zentralen Mittelfeldes: Im 3-5-2 sind es drei Spieler, in der 4-4-2-Raute sind es allerdings vier, so dass hier eine Überzahl im Mittelfeldspiel vorhanden ist.

SPOX: Nachdem die ersten beide Spiele im 3-5-2 bestritten wurden, setzte Italien in den letzten beiden Spielen auf die 4-4-2-Raute. Welche Nachteile und welche Vorteile bietet diese Grundordnung?

Wormuth: Wenn man in der 4-4-2-Raute aufläuft, diese wie Italien zudem noch mit zentralen Mittelfeld- und nicht Außenbahnspielern besetzt, sollte man im defensiven Verhalten den Ball nach innen lenken. Denn im Zentrum lässt sich Überzahl herstellen. Eingeleitet werden sollte dieses Lenken nach innen durch breitstehende Stürmer, ansonsten sind die Laufwege nach außen weiter als in anderen Grundordnungen.

SPOX: Und offensiv?

Wormuth: Im Angriffsverhalten bietet sich außen viel Platz, der vom Außenverteidiger genutzt werden muss. Ergo: In der 4-4-2-Raute braucht es offensive Außenverteidiger, die aus der Tiefe unbemerkt kommen können. Voraussetzung ist die Spielverlagerungsabsicht. Man lockt den Gegner auf die eine Seite und verlagert schnell und präzise auf die andere Seite, wo der Außenverteidiger sich einschaltet. So ist es möglich, ganz schnell in den Rücken des Gegners zu kommen.

SPOX: Die italienischen Außenverteidiger arbeiten zwar emsig, gehören jedoch allesamt nicht zur internationalen Spitzenklasse. Ist das eine Schwachstelle, auf die Deutschland abzielen sollte?

Wormuth: Ich bin durch die Beobachtungsaufgabe ein wenig in den Vorbereitungsprozess des Bundestrainers involviert und halte mich daher mit Lösungsansätzen vor dem Spiel natürlich zurück. Die Italiener lesen sicherlich SPOX. Lassen wir uns überraschen.

SPOX: Das italienische Mittelfeld steht sehr kompakt, weil in der 4-4-2-Raute vier Spieler auflaufen, die allesamt eine Mischung sind aus Sechser/Achter/Zehner und je nach Bedarf ihre Rolle anders interpretieren. Sehen Sie in dieser Vielseitigkeit eine der großen Stärken der Italiener?

Wormuth: Über Stärken können wir reden - und in der Tat sind die Italiener im Mittelfeld sehr variabel und kombinationssicher. Sie sind dem spanischen Spiel sehr nahe, auch wenn nicht in der extremen Penetranz des geduldigen Ballbesitzspieles.

SPOX: Auffällig an den italienischen Fußballern: Im Kontrast zum deutschen Flachpassspiel agieren die Italiener sehr häufig mit hohen Steilpässen, selbst gegen die kopfballstarken Engländer. Warum?

Wormuth: Schwerpunkt ihres Fußballs ist ebenfalls das Flachpassspiel. Das liegt in der Natur des italienischen Fußballs. Dennoch sah man insbesondere im Spiel gegen die Engländer den langen Flugball auf Balotelli, weil die Engländer ab und zu weg vom eigenen Strafraum standen. Und da John Terry und Joleon Lescott in der Innenverteidigung nicht die schnellsten Spieler sind, war es nachvollziehbar, hier mit Flugbällen über die Abwehrrecken zu agieren, zumal Balotelli sehr schnell ist. Also taktisch betrachtet eine einwandfreie Verhaltensweise.

SPOX: Angesichts des starken italienischen Mittelfelds wird es sehr auf Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger ankommen. Sind sie der ähnlichen Ansicht, dass Schweinsteigers Leistungen bisher durchwachsen sind und er eher von Khedira gestützt wird?

Wormuth: Dass Schweinsteiger im Vergleich zu Khedira keine runde Saison bei den Bayern hatte, wissen wir alle. Aber mittlerweile hat er wieder konditionell aufgeholt. Ich sehe ihn sehr mannschaftsdienlich arbeiten - und wissen wir überhaupt, wie er sich verbal einbringt? Nein. Er übernimmt auf dem Platz eine Leaderrolle und ist sehr wichtig, da er im Gegensatz zu Philipp Lahm von seiner Position aus alle verbal erreicht.

SPOX: Schweinsteiger spielt anders als früher wesentlich defensiver als Khedira, der nicht nur Bälle erobert und Offensivaktionen einleitet, sondern selbst in die Spitze geht und zum Abschluss kommt. Sehen wir einen neuen Sami Khedira?

Wormuth: Er fällt mit seiner Spielweise auf, vor allem bei uns Deutschen. Es liegt in der Natur unserer Mentalität, immer nur schwarz und weiß zu sehen. Ich finde: Khedira hat immer schon so gespielt. Vielleicht liegt seine aktuelle Popularität an der kontrollierten Leistung von Schweinsteiger?

SPOX: Erinnert Sie Khediras an Michael Ballack zu dessen besten Zeiten?

Wormuth: Ballack war eher einer, der von der Zehn aus spielte und sich defensiv beteiligte. Bei Khedira ist es umgekehrt. Er verkörpert den neuen Stil des Sechsers. Seinen Spielstil gab es in der Vergangenheit noch gar nicht.

Wormuth ist während der EM als SPOX-Eperte tätig und meldet sich regelmäßig zu Wort, um über taktische Trends bei der EM aufzuklären.

Was erreicht Team Deutschland bei der EM? Jetzt mittippen und absahnen!

Artikel und Videos zum Thema