37 also. So alt ist der eigentlich 20-jährige Julian Weigl bei seiner ersten Nominierung in die deutsche Nationalmannschaft, wenn man dem Gefühl von Daniel Bierofka vertrauen würde. 2014 war es. Bierofka war damals noch nicht der große Retter von 1860 München und der Name Julian Weigl wäre bei einem gewöhnlichen Fußball-Stammtisch mit fragenden Blicken und keinem bestätigend-anerkennenden Nicken bedacht worden.
Bierofka war damals 35 Jahre alt und spielte immer noch aktiv für die Löwen. Weigl war gerade 18 Jahre alt und spielte eben erst für die Löwen, stand bei zwei Zweitligaspielen. "Weigl ist super", sagte Bierofka damals also, "der spielt wie ein 35-Jähriger."
Natürlich wusste Bierofka auch damals, dass er es mit einem Jungspund zu tun hatte, aber er wollte eben verdeutlichen, dass dieser Julian Weigl für sein Alter bereits eine enorme Sicherheit in seinem Spiel hatte. Und überhaupt: Aus dem könnte mal was werden.
Jetzt, etwas mehr als zwei Jahre später, ist Weigl natürlich nicht 37 Jahre alt, sondern 20. Dafür aber gestandener Bundesligaspieler und bald wohl auch Nationalspieler. Im vergangenen Sommer wechselte der Mittelfeldakteur für knapp 2,5 Millionen Euro aus dem Abstiegskampf der zweiten Bundesliga in den Titelkampf der ersten. Statt einen Kulturschock zu erleben, etablierte sich Weigl von Anfang an als Stammspieler von Borussia Dortmund. Und blieb das. Auch beim DFB-Pokal-Finale am Samstag gegen den FC Bayern wird Weigl wie selbstverständlich in der Startelf stehen.
Gemacht für Liga eins
Als Leiter des 1860-Nachwuchsleistungszentrums kennt Wolfgang Schellenberg Weigl so gut wie nur wenige andere Menschen aus dem großen Fußballbusiness. Und nicht einmal er hat wohl wirklich an diese rasante Entwicklung geglaubt. "Dass es so schnell geht, war natürlich nicht zu erwarten", sagt Schellenberg im Gespräch mit SPOX, "umso schöner ist es, dass es doch eintrat."
In seinen eineinhalb Jahren als Profi bei 1860 spielte Weigl oft einfach mit, ohne groß aufzufallen. Ein Vergleich mit seinen erstaunlichen Leistungen für den BVB verbietet sich fast, er würde nur für Rätselraten sorgen. Es scheint, als liege Weigl die erste Bundesliga schlicht mehr als die zweite. "Dort geht es mehr über Kopfballduelle, lange Bälle, über die Dinge, an denen er noch arbeiten muss", sagte Weigls Ex-Trainer Torsten Fröhling einst und zählt sie auf: "Dynamik, Zweikampfverhalten, Kraft."
1,87 Meter misst Weigl und bringt dabei nur 71 Kilogramm auf die Waage. "Ich kann essen, was ich will, ich nehme einfach nicht zu", offenbarte Weigl mal. Im Dortmunder Ballbesitzspiel scheint diese fehlende Robustheit kein Problem zu sein. "Die Spielweise von Dortmund und die Interpretation seiner Position kommen ihm und seinen Stärken entgegen", sagt Schellenberg.
Weigl verfügt über ein sauberes Passspiel, kann Situationen auch unter Druck hervorragend lösen, Ballverluste unterlaufen ihm nur wenige. Sein Spielverständnis ist extrem ausgeprägt und er erkennt umgehend "Räume, in die er sich bewegen muss oder die er zumachen muss", sagt Schellenberg und lobt Weigls technische Qualität. Denn die ist das Werkzeug, das die Umsetzung all dieser Fähigkeiten erst ermöglicht.
Von Taxis und Wurstsemmeln
Bevor Pep Guardiola mit seinen Bayern in dieser Saison erstmals auf den BVB traf, als der katalanische Trainer im Vorlauf der Partie das Dortmunder Spiel analysierte, fiel ihm dieser Weigl sofort auf. "Ohne ihn würde es für Dortmund anders aussehen. Ich bin begeistert von ihm und kannte ihn vorher gar nicht", lobte Guardiola.
Böse Zungen könnten behaupten: Gut, dass Guardiola Weigl vor seinem BVB-Engagement nicht kannte. Vor seinem Wechsel nach Dortmund hatte Weigl nämlich nicht unbedingt das Image des Musterprofis inne, das er sich mittlerweile erarbeitet hat.
Grund dafür ist nicht zuletzt die leidige Taxi-Anekdote. Etwa 3.30 Uhr in der Nacht soll es gewesen sein, als Weigl einst gemeinsam mit drei Löwen-Kollegen in einem Münchner Taxi über seinen Verein gelästert haben soll. Der Taxifahrer, der das weniger lustig fand, weil die Löwen nun einmal - wie es der Zufall will - sein Lieblingsverein sind, informierte die Vereinsführung, die das Ganze ebenfalls weniger lustig fand. Nicht zuletzt deshalb, weil sie den damals 18-jährigen Weigl knapp zwei Wochen zuvor zum Kapitän bestimmt hatte.
Die Binde war weg und sein neues Image da. Schon einmal, in der F-Jugend des SV Ostermünchen, soll sich Weigl als Kapitän seiner Mannschaft daneben benommen haben. Kurz vor Spielbeginn, so mag es die Legende, verdrückte er auf der Bank einfach eine Wurstsemmel. Zur Strafe musste Weigl ganz draußen bleiben. Und das obwohl er bekanntlich alles essen kann, ohne zuzunehmen.
Einfluss auf die Mitspieler
Wenn Weigl dann aber doch mal auf dem Platz stand, machte er seine Sache so gut, dass er das Interesse von 1860 Rosenheim auf sich zog. Dort traf Weigl erstmals auf Schellenberg, der als Trainer der Herrenmannschaft fungierte. "Julian hat damals schon als 15-Jähriger Fördertrainingseinheiten mit der ersten Mannschaft mitgemacht", erzählt Schellenberg, der bei Weigls folgendem Wechsel von den Rosenheimern zu den Münchner Sechzigern involviert war: "Ich habe ihm nahegelegt, dass die Löwen eine gute Option sind."
Ein knappes Jahr später ging Schellenberg denselben Weg wie Weigl und schloss sich dem TSV 1860 an. Bei den Löwen wurde Weigl bald einen Jahrgang hochgezogen, um seine Entwicklung zu beschleunigen. Die Integration in neue Mannschaften fiel Weigl stets leicht, "weil er ein positiver, ein offener Typ ist, der auf seine Mitspieler zugeht", wie Schellenberg lobt. Er könne Einfluss auf seine Mitspieler nehmen.
"Ein angenehmer junger Mann"
Die positive Meinung über Weigls Persönlichkeit hat Schellenberg nicht exklusiv. Auch sein aktueller Trainer Thomas Tuchel ist voll des Lobes. "Er ist ganz wohlerzogen, ein sehr angenehmer junger Mann", sagte der BVB-Coach und es wirkt, als frage er sich dabei selbst, ob die Episoden aus Weigls jüngeren Jahren nicht einfach nur erfunden sind.
Letztlich ist das auch egal. Tuchel hat mit Weigl einen Spieler in seinen Reihen, der sich auf dem Platz beinahe keine Fehler erlaubt. In der abgelaufenen Bundesligasaison brachte Julian Weigl 91,9 Prozent seiner Pässe an den Mann und gewann 57,1 Prozent seiner Zweikämpfe.
Beide Werte sind herausragend und etwas besser als die seiner Pendants beim FC Bayern, Xabi Alonso und Arturo Vidal. Aber das Duo ist auch noch keine 37 Jahre alt - ihnen bleibt also noch Zeit, um die Abgeklärtheit des bierofka-geschätzten Weigl zu erreichen.
Julian Weigl im Steckbrief