Schloss man während des Sport1-Doppelpass die Augen und lauschte lediglich den Worten von Uli Hoeneß, dann konnte man das passende Ambiente vor sich sehen: eine schummrige Kneipe, ein paar Bier am Tisch, dazwischen ein lustiger Wimpel und an den Wänden die Schals von damals. Oder so wie sich jeder eben seinen persönlichen Bilderbuch-Fußball-Stammtisch vorstellt. Den fiktiven Ort, an dem der Populismus zuhause ist.
Augen wieder auf und aus der Vorstellung wurde ein tadellos beleuchtetes TV-Studio, in dem der menschgewordene Stammtisch seine Rede zur Lage der Fußball-Nation abhielt. Uli Hoeneß sagte dabei einige populistische Sätze, bei denen ihm sicherlich viele Fans an den Stammtischen des Landes jubelnd zustimmten. Endlich spricht's mal einer aus! Wobei: Vielleicht tut man den Stammtischen damit sogar Unrecht.
Letztlich war es wie zuletzt so oft bei Hoeneß' Ausführungen. Man denke beispielsweise an seine Mutmaßungen über Mesut Özil, Marc-Andre ter Stegen oder Ultras. Ohne jegliche Empathie verallgemeinerte Hoeneß teils bedenklich, machte es sich in seinen Argumentationslinien viel zu einfach oder verdrehte gar Tatsachen. So etwas auf einem Stammtisch gegenüber ähnlich gesinnten Freunden zu äußern, ist das eine. Es als Fußball-Instanz zu tun, ist aber etwas anderes und durchaus gefährlich für das nationale Meinungs-Bild. Noch dazu, wenn die Kollegen Mario Basler, Stefan Effenberg und Thomas Helmer nickend zustimmen.
Hoeneß verallgemeinert mit seiner Kritik an England
Zunächst einmal die Sache mit den Engländern, mit dem Jubel beim Anblick eines weinenden deutschen Mädchens und dem Auspfeifen der dänischen Hymne im Wembley-Stadion. Ja, unnötig und keineswegs sympathisch. Daraus aber wie Hoeneß im Rahmen einer großen Anti-England-Rede zu schließen, dass sich "die Engländer in jeder Hinsicht unmöglich verhalten", ist eine bedenkliche Verallgemeinerung und wird allen Engländern, die in dieser Situation nicht gejubelt und in der anderen nicht gepfiffen haben (oder gar nicht im Stadion waren), nicht gerecht.
Dass das deutsche Mädchen weinte, lag übrigens am Achtelfinal-Aus der eigenen Nationalmannschaft gegen England, das laut Hoeneß sehr einfach zu vermeiden gewesen wäre. "Hätte man von Anfang an mit einer Viererkette und einem Mittelfeld Leon Goretzka, Joshua Kimmich, Thomas Müller gespielt, dazu die zwei Außenstürmer Leroy Sane und Serge Gnabry und den Kai Havertz in der Mitte vorn, dann bin ich hundertprozentig sicher, dass wir jetzt anders dastehen würden", sagte Hoeneß. "Wenn man das Thema analysiert, ist es relativ einfach."
Tatsächlich macht es sich Hoeneß mit dieser Analyse aber viel zu einfach. Aus einer Position der Nicht-Verantwortung stellte er im Nachhinein vermeintlich hundertprozentige Sicherheiten über nicht nachprüfbare Eventualitäten auf. Mag sein, dass die Nationalmannschaft mit der von ihm vorgeschlagenen Taktik weiter gekommen wäre. Mag aber auch sein, dass Deutschland mit dieser Taktik gar nicht erst ins Achtelfinale eingezogen wäre, weil das 3-4-3 beim überzeugenden 4:2-Sieg gegen Portugal in der Gruppenphase ein Schlüssel zum Erfolg gewesen ist.
Hoeneß attackiert Kroos - die Fakten sagen etwas anderes
Keinen Platz in Hoeneß Startelf hätte jedenfalls der nach dem Turnier zurückgetretene Toni Kroos gehabt. "Er hat in diesem Fußball nichts mehr verloren", sagte Hoeneß. Laut Hoeneß sei Kroos in der Schlussphase gegen England "nicht einmal über die Mittellinie" gegangen. Und überhaupt: "Der Toni Kroos passt nicht mehr in dieses Spiel mit seinen Querpässen."
Zunächst einmal beweisen TV-Bilder bei der Mittellinien-Mutmaßung das Gegenteil. Faktisch falsch ist auch die von Hoeneß geäußerte und aktuell Deutschland-weit beliebte Mär des "Querpass Toni". In der EM-Gruppenphase hat kein Spieler mehr Pässe ins Angriffsdrittel gespielt als Kroos. In der vergangenen Saison hat Kroos im Trikot von Real Madrid ligaweit die drittmeisten Chancen kreiert. Bei der international anerkannten Statistik-Plattform WhoScored, die Spieler nach über 200 statistischen Werten automatisiert benotet, war Kroos bei der EM mit einer Durchschnittsnote von 6,97 übrigens der zweitbeste deutsche Spieler nach Mats Hummels.
Man kann Kroos und seine Spielweise mögen oder nicht mögen. Ihm als Weltmeister, viermaligem Champions-League-Sieger und Stammspieler bei einem der besten Klubs der Welt mit bis heute statistisch nachweislich guten Werten eine Daseinsberechtigung in seinem Sport abzusprechen, ist aber gelinde gesagt eine Frechheit.
Die Anti-England-Rede. Die "hundertprozentige" Sicherheit, dass Deutschland mit einem anderen System besser abgeschnitten hätte. Das unverhältnismäßige Eindreschen auf Toni Kroos. Noch einige andere von ihm geäußerte Mutmaßungen. All das: populistisches Stammtisch-Gerede vom feinsten. Einfach nur unsinnig war dagegen Hoeneß' Vorschlag, Philipp Lahm doch mal ins DFB-Präsidium zu befördern. Dort sitzt er nämlich schon seit 2019.