Herumlungern in Marken-Trainingsanzügen, Alkohol auf der Straße trinken, vorbeigehende Passanten anpöbeln und dabei klischeehaft in der Hocke sitzen. Glaubt man Wikipedia und fragwürdigen Rap-Songs, kennzeichnen diese Dinge die russische Subkultur Gopnik.
Im russischen Jargon gehören Gopnik "vor allem Vertreter der kriminellen Jugend an, die häufig keine Ausbildung hat und in der Regel zu schwächeren ökonomischen Schichten zählt", heißt es dort. Merkmal oder Sinnbild dieser Subkultur ist die sogenannte "Russenhocke", bei der wohl besonders wichtig ist, dass die Fersen am Boden bleiben.
Wie diese Russenhocke funktioniert, konnte man am Donnerstagabend im italienischen Bologna bestaunen. Genauer gesagt im altehrwürdigen Stadio Renato Dall'Ara. Dort hockte sich der deutsche U21-Nationalspieler Nadiem Amiri um 18.21 Uhr auf den Rasen und bekam das Grinsen dabei nicht aus dem Gesicht.
Amiri: "Wir haben ausgemacht, dass ich so juble"
Denn im Halbfinale der U21-Europameisterschaft gegen Rumänien hatte er die deutsche Mannschaft gerade mit einem tollen Treffer in Führung gebracht. In der eigenen Hälfte machte er sich in dieser Szene auf, dribbelte bis tief ins gegnerische Drittel, ließ einen Gegenspieler aussteigen und wuchtete den Ball durch die Beine von Alexandru Pascanu zur 1:0-Führung ins Netz. Und danach ging der 22-Jährige in die Hocke und blickte in Richtung der vielen rumänischen Fans auf der Tribüne.
"Das war die Russenhocke", erklärte Amiri nach dem Schlusspfiff und als er merkte, dass die meisten Journalisten nicht viel mit diesem Begriff anfangen konnten, legte er nach: "Wegen Waldemar Anton, der Halb-Russe ist. Wir haben ausgemacht, dass ich so juble, wenn ich treffe." Und so war Gopnik in Bologna angekommen.
Amiri wirkt schüchtern und zurückhaltend
Doch obwohl Amiri die russische Subkultur an diesem Abend auf den italienischen Rasen gebracht hat, wäre der junge Hoffenheimer wohl der Letzte, den man Gopnik zuordnen würde. Denn statt proletenhaft und großspurig aufzutreten, wirkt der gebürtige Ludwigshafener eher schüchtern und zurückhaltend. In Interviews spricht der Mittelfeldspieler sehr leise und ist stets höflich. Auch auf dem Feld zählt er nicht gerade zu den Spielern, die für emotionale Ansprachen bekannt sind.
Statt emotionalen Worten hat Amiri beim Sieg gegen Rumänien durch emotionale Treffer überzeugt. Denn nach seinem Führungstor zum 1:0 legte er in der Nachspielzeit nach und erzielte den 4:2-Endstand. "Ich war eigentlich tot, aber nach dem Tor hatte ich durch die Emotionen wieder richtig viel Kraft", beschrieb er seine Gefühlslage nach dem Schlusspfiff.
Waldschmidt: "Amiri hat überragend gespielt"
Tot - oder zumindest fast - waren vor einem Monat auch seine Chancen auf die Teilnahme an der EM, denn am vorletzten Bundesligaspieltag zog sich der Hoffenheimer einen Außenbandriss zu. Obwohl er noch nicht vollständig genesen war, nominierte ihn Trainer Stefan Kuntz für das Turnier in Italien.
Wie Amiri verriet, war der Plan, rechtzeitig zu den K.-o.-Spielen wieder bei 100 Prozent zu sein: "Unser Plan war, mich während der Gruppenphase komplett fit zu bekommen und dann im Halbfinale voll da zu sein - das hat ja auch gut geklappt", sagte er.
"Nadiem hat heute überragend gespielt", schwärmte sein Mitspieler Luca Waldschmidt, der ebenfalls zwei Treffer zum Sieg der Deutschen beisteuerte.
Denn neben seinem Doppelpack überzeugte Amiri auf der linken Seite mit klugen Läufen und zahlreichen guten Ideen. Insgesamt fünfmal schoss er selbst aufs Tor, fünf weitere Versuche legte er seinen Kollegen auf. "Er hat uns heute sehr gutgetan", machte auch Kapitän Jonathan Tah klar.
Amiri: "Das war sehr emotional"
"Das war heute sehr emotional", gab Amiri nach seinem Gala-Auftritt zu und richtete den Blick schon auf die kommende Aufgabe: "Jetzt heißt es regenerieren und den Schwung mitnehmen."
Für den Mittelfeldmann gehe es im Finale gegen Spanien darum, die gleiche "Charakterstärke, Mentalität und Emotion" zu zeigen, wie schon in den zurückliegenden Spielen: "Wir können den Moment heute genießen, aber müssen im Finale noch ein letztes Mal alles raushauen."
Und vielleicht sehen wir Amiri ja dann schon am Sonntag erneut in der "Russenhocke" - nur dann mit dem EM-Pokal in der Hand.