Als Marco Reus beim Training der Nationalmannschaft am Samstag auf dem Rasen erschien und die komplette Einheit mitmachte, war die Hoffnung groß: Der Dortmunder schien seine Fußprellung und den geschwollenen Knöchel, der einen Einsatz gegen Russland unmöglich machte, auskuriert zu haben.
Einen Tag später musste der Bundestrainer diesen Hoffnungen erneut einen Dämpfer verpassen. "Ich weiß noch nicht, ob er aufläuft oder nicht", sagte Joachim Löw auf der Pressekonferenz am frühen Sonntagnachmittag. "Heute Morgen hatte ich ganz kurz mit ihm gesprochen. Er hat gesagt, dass er gestern nach dem Training noch ein bisschen Schmerzen im Fuß gespürt hatte."
Es klang so, als stünden die Chancen für einen Einsatz am Montag bei so etwas wie fifty-fifty: "Heute ist Abschlusstraining mit mehr Intensität [als am Samstag]. Wir müssen sehen, wie er das verkraftet." Sollte Reus nicht bei 100 Prozent sein, werde man kein Risiko eingehen und ihn nicht einsetzen. Es wäre ein bitterer Ausfall, auch wenn die Partie gegen Oranje bekanntlich ein Muster ohne sportlichen Wert ist.
Marco Reus in der Form seines Lebens
Schließlich war dem neuen BVB-Kapitän eine enorm wichtige Rolle zugedacht worden in den beiden abschließenden Länderspielen des so verkorksten Jahres 2018. "Zum Jahresabschluss wieder mit Reus", hatte die Pressemitteilung des DFB am 9. November fast schon triumphierend, aber zumindest hoffnungsvoll getitelt, und einen Link zu einem Interview mit dem Bundestrainer beigefügt, in welchem der keinen Hehl daraus machte, was die Rückkehr des Offensivspielers für ihn bedeutete: "Natürlich freue ich mich für Marco, dass er endlich wieder eine starke Phase mit Borussia Dortmund hat. In dieser Verfassung kann er auch der Nationalmannschaft Rückenwind geben. Das erhoffe ich mir auch von ihm."
Die "starke Phase" war dabei schon fast untertrieben, und der überragende Auftritt von Reus gegen die Bayern stand zu diesem Zeitpunkt noch bevor. Reus ist der beste Spieler der jetzt immerhin schon elf Spieltage alten Bundesliga-Saison, er befindet sich in der Form seines Lebens und wäre für Löw Gold wert gewesen.
Bundesliga-Daten von Marco Reus | ||
2018/19 | 2017/18 | |
11 | Spiele | 11 |
8 | Tore | 7 |
3 | Assists | 0 |
119 | Min./Tor | 134 |
87 | Min./Torbeteiligung | 134 |
38% | Chancenverwertung | 30% |
78% | Passquote | 80% |
40% | Zweikampfquote | 46% |
2.8 | Dribblings/90 Min. | 3.5 |
40% | Erfolgsquote Dribblings | 36% |
11.7 | Kilometer/90 Min. | 10.8 |
33 | Sprints/90 Min. | 29 |
33.3 km/h | Topspeed | 33.4 km/h |
Marco Reus fehlt Bundestrainer Löw als Torjäger - und Leader
Als Torjäger zum Beispiel: Sieben Tore hat Reus in der Liga schon erzielt und seine Abschlussqualitäten dabei neu entdeckt. Gegen die Bayern verwandelte er zunächst nervenstark einen selbst herausgeholten Strafstoß, dann traf er technisch höchst anspruchsvoll per Direktabnahme - vor den Augen von Löw.
Und der ist bekanntlich immer auf der Suche nach Torschützen. Die schwache Chancenverwertung der DFB-Elf in den letzten Monaten ist schon fast legendär und nach jedem Spiel Thema. Oder auch schon davor: "Es wäre wünschenswert, wenn wir einen Topstürmer hätten. Im Moment haben wir den Stürmer in dieser Klasse nicht und müssen andere Möglichkeiten finden", konstatierte Löw am Mittwoch.
Den fehlenden "typischen Mittelstürmer von Weltformat" müsse man ersetzen, die Offensivspieler umso mehr in Szene setzen. Dinge, in denen Reus momentan brilliert. Gegen ersatzgeschwächte und nicht übermäßig motivierte Russen funktionierte das ganz gut, aber auch dort lahmte das Offensivspiel in der zweiten Halbzeit gewaltig. Holland ist noch eine Nummer stärker, gerade die Innenverteidigung hat internationale Klasse.
Aber der Dortmunder fehlt auch als Leader. Nicht unbedingt deshalb, weil im DFB-Dress keine Führungsspieler zur Verfügung stehen - Manuel Neuer, Mats Hummels und Thomas Müller sind weiter dabei, auch Toni Kroos ist nach seiner verspäteten Anreise wieder mit von der Partie.
Aber Reus hat im Verein genau jenen Umbruch schon umgesetzt, den Löw noch anstrebt: Er führt dort ein Team mit vielen jungen, hungrigen Spielern an, die für einen schnellen, konterstarken Fußball spielen - also genau das, was in der Nationalmannschaft seit der WM etabliert werden soll.
An Reus sollten sich die jungen, noch unerfahreneren Akteure in dieser Woche orientieren: Er weiß, wie der Neuanfang gelingen kann, er hat es selbst mitgemacht und kann wertvolle Hinweise geben. Die Kapitänsbinde beim BVB scheint ihn beflügelt zu haben, stellten nicht wenige Experten fest, und Sportdirektor Michael Zorc bestätigte dies: Reus gehe auf dem Platz voran. Er ist gereift, wird bald Vater, ruht in sich. Gerade jetzt, wo so viele Bayern-Stars im Verein in der Krise stecken, wäre er umso wichtiger.
Ohne Reus: Welche Experimente wagt Löw gegen die Niederlande?
Durch seine Verletzung konnte Reus, der auch schon im Oktober gefehlt hatte, bislang nur abseits des Trainingsplatzes auf die Jungen einwirken. Und Löw entgeht womöglich die Gelegenheit, seinen besten Torjäger im neuen System zu testen: In der Formation mit Dreierkette und drei offensiven Spielern spielte Kai Havertz am Donnerstag den klassischen Zehner - mit großem Erfolg. Auf dieser Position fühlt sich auch Reus am wohlsten, wie er zuletzt mehrfach betonte. Ist trotzdem für beide Platz, wenn Reus einen Spieler des Offensiv-Trios verdrängt?
Löw hatte gegen schwache Russen, die gegen Deutschland auf eine massierte Abwehr setzten, bis auf Havertz in der Startelf nur wenig Neues probiert. Gegen die Niederlande böte sich dafür noch einmal eine Chance, zumal das erste Halbjahr 2019 nur einen einzigen Nationalmannschafts-Lehrgang vorsieht: Reus als falsche Neun im Zentrum, daneben zwei der drei schnellen Leroy Sane, Timo Werner und Serge Gnabry? Reus einfach nur anstelle von Havertz? Oder gar eine Viererkette mit zwei Sechsern, davor Reus und alle drei Offensiven?
"Dreierkette und Viererkette sind morgen denkbar", kündigte Löw bereits an. Ohne Reus, dem eigentlich eine so wichtige Rolle zukommen soll, wären diese Experimente nur halb soviel wert.
Fällt Reus aus, gibt es eigentlich keinen Grund, an der Startelf gegen Russland viel zu ändern, gerade offensiv. Zumal dort die Alternativen ohnehin rar gesät sind, höchstens Thomas Müller könnte für sein 100. Länderspiel in die Startelf rotieren.
Löw weiß, dass für die jungen Spieler jeder Einsatz unbezahlbar ist. "Natürlich" müsse seine Mannschaft noch reifen, sagte er, und warnte davor, dass es bei Shootingstars wie Havertz Dellen in der Entwicklung geben werde. Umso wichtiger ist, dass sie auch am Montag spielen. Dass die Zukunft wieder den Vorzug vor den Gegenwart erhält. Erst recht dann, wenn diese Gegenwart einmal mehr nicht Marco Reus gehören sollte.