Er gab sich kämpferisch. "Ich habe immer noch Hoffnung für morgen", twitterte Mats Hummels nur wenige Minuten nach der DFB-Pressekonferenz am Freitagnachmittag in Sotschi. "Bei einem so wichtigen Spiel will man einfach nicht zuschauen müssen."
Vieles spricht jedoch dafür, dass die Entscheidung intern bereits gefallen ist: Mats Hummels wird gegen Schweden verletzt fehlen. "Er wird sehr wahrscheinlich nicht spielen können. Er hat sich am Donnerstag einen Halswirbel verrenkt, konnte in keine Kopfballduelle gehen", hatte Bundestrainer Joachim Löw im vollgestopften PK-Raum in den Katakomben des Olympiastadions verraten. Die Beschwerden hätten über Nacht nicht nachgelassen, er brauche gegen die "körperlich robusten Schweden" Spieler, die die Kopfballduelle gewinnen: "Ich denke eher, dass es keinen Sinn macht bei ihm."
Selbst wenn die Schmerzen bei Hummels in den kommenden 24 Stunden nachlassen sollten, würde Löw wohl kein Risiko gehen. Zu groß die Gefahr, dass der Bayernspieler beim ersten Luftkampf einen Schlag abbekommt und früh ausgewechselt werden muss. Zudem hat beim DFB niemand die Hoffnung auf einen langen Turnierverlauf aufgegeben - Hummels könnte dabei noch enorm wichtig werden.
Er habe bereits einen Alternativplan für Samstag geschmiedet, schob Löw hinterher, verriet jedoch nicht, wer den Platz neben Jerome Boateng einnehmen wird. Mit Hummels' Bayern-Kollege Niklas Süle und Antonio Rüdiger vom FC Chelsea hat er dabei zwei hochklassige Alternativen parat. Auf kaum einer Position ist der Kader nominell so tief besetzt wie in der Innenverteidigung.
Niklas Süle: Mit den Bayern-Kollegen eingespielt
Für Süle spricht natürlich die Tatsache, dass er in eine Abwehr integriert werden würde, die er zum Großteil von der Säbener Straße kennt: In Löws Wunschelf bilden mit Joshua Kimmich, Boateng, Hummels und Manuel Neuer gleich vier Spieler vom Rekordmeister das Gerüst der Defensive. Süle würde daran nichts ändern, in der abgelaufenen Saison hat er immer wieder einen der beiden Innenverteidiger ersetzt.
Das übrigens häufiger, als man denken könnte: Fast 3.000 Minuten absolvierte Süle als nominell nur dritter Innenverteidiger bei den Bayern. Er kam auf 42 Einsätze und überflügelte dabei sowohl den mehrfach verletzten Boateng (31 Einsätze), als auch Hummels (41 Spiele). Und das mit so großem Erfolg, dass die Bayern Boateng bei einem entsprechenden Angebot ziehen lassen würden, wie Boss Karlheinz Rummenigge offen zugab: Intern ist man offensichtlich davon überzeugt, dass Süle problemlos in Boatengs Fußstapfen treten kann.
Antonio Rüdiger unverzichtbar bei Chelsea
Rüdiger kann nicht auf die genannte Eingespieltheit mit den Abwehrkollegen verweisen, doch auch er hat eine glänzende Saison hinter sich. Der 25-Jährige kam beim FC Chelsea auf stolze 45 Einsätze, spulte dabei fast 800 Spielminuten mehr ab als Süle.
Dabei war er auch in den entscheidenden Saisonspielen unverzichtbar, musste sich also noch häufiger als Süle auf höchstem Niveau beweisen und spielte unter anderem in der Königsklasse gegen den FC Barcelona die kompletten 180 Minuten. Wobei Süle in dieser Hinsicht auch von Boatengs Verletzung "profitierte" und im Rückspiel gegen Real Madrid und im Pokalfinale durchspielte.
Körperlich hat Rüdiger leichte Nachteile gegenüber Süle. Er ist ein paar Zentimeter kleiner und ein paar Kilo leichter, was gegen die hochgewachsenen Ola Toivonen (1,89 Meter) und Marcus Berg (1,84 Meter) ins Gewicht fallen könnte. Andererseits ist er enorm körperbetontes Spiel aus der Premier League gewohnt und musste sich dabei mit härteren Gegnern messen als Süle, der bei den Bayern so manchen ruhigen Arbeitstag verlebte.
Niklas Süle und Antonio Rüdiger im Vergleich
Niklas Süle | Pflichtspiele im Verein, Saison 2017/18 | Antonio Rüdiger |
42 | Spiele | 45 |
2.958 | Minuten | 3.755 |
6.5 | Zweikämpfe / 90 Minuten | 7.8 |
60 Prozent | Gewonnene Zweikämpfe | 51 Prozent |
3.2 | Luftduelle / 90 Minuten | 3.4 |
58 Prozent | Gewonnene Luftduelle | 61 Prozent |
0.7 | Fouls / 90 Minuten | 1.2 |
2.4 | Klärende Aktionen / 90 Minuten | 3.5 |
78 | Ballaktionen / 90 Minuten | 74 |
93 Prozent | Passquote | 88 Prozent |
Die Opta-Daten stellen Süle vor allem in der Zweikampfquote ein klar besseres Zeugnis aus (60:51 Prozent), wenngleich Rüdiger bei den Kopfbällen etwas besser ist. Bei Chelsea war Rüdiger zudem etwas mehr gefordert: Er foulte mehr, klärte aber auch öfter als Süle. Dessen Statistik mit dem Ball sieht aufgrund der dominanten Spielweise der Bayern etwas besser aus.
Niklas Süle | Länderspiele 2018 | Antonio Rüdiger |
4 | Spiele | 4 |
247 | Minuten | 315 |
6.2 | Zweikämpfe / 90 Minuten | 5.7 |
59 Prozent | Gewonnene Zweikämpfe | 55 Prozent |
2.6 | Luftduelle / 90 Minuten | 1.4 |
71 Prozent | Gewonnene Luftduelle | 80 Prozent |
0.4 | Fouls / 90 Minuten | 2.0 |
2.6 | Klärende Aktionen / 90 Minuten | 2.3 |
98 | Ballaktionen / 90 Minuten | 101 |
93 Prozent | Passquote | 94 Prozent |
Schaut man sich die Länderspiele im laufenden Kalenderjahr an, lösen sich Süles Vorteile bei den Ballaktionen und der Passquote in Luft auf. Er bleibt stärker in den Zweikämpfen, allerdings weiter schwächer in der Luft. Sein Plus: Er foult weiterhin viel seltener als Rüdiger, bei einem derart auf Standards fokussiertem Turnier ein klares Plus.
Letzten Endes dürfte Süle die Nase bei Löw im Moment ein kleines Stückchen vorn haben. Für die ohnehin so wacklige Abstimmung in der Defensive ist seine Eingespieltheit mit Kimmich, Boateng und Neuer ein großes Plus, körperlich ist er Rüdiger ein Stückchen voraus.
Das geben auch die Einsätze in den Länderspielen wieder. Rüdiger hat zwar mehr Minuten gespielt, doch im letzten Testspiel gegen Saudi-Arabien am 8. Juni, als Löw bis auf Mesut Özil seine Wunschelf spielen ließ, kam Süle als erster Spieler von der Bank und spielte die komplette zweite Halbzeit durch. Damals hatte er jedoch Boateng abgelöst, nicht Hummels.
Spielt Ilkay Gündogan, weil Mats Hummels wohl ausfällt?
Ob Rüdiger oder Süle: Beide bringen nicht die Qualitäten in der Spieleröffnung mit wie Hummels. Das bedeutet, dass Schweden den Plan Mexikos, Hummels und Kroos zuzustellen nicht kopieren kann. Umgekehrt könnte Löw versuchen, das geringere Potenzial im Aufbauspiel aufzufangen, indem er etwa Ilkay Gündogan für Sami Khedira spielen lässt - auch Innenverteidiger werden schließlich nicht im Vakuum aufgestellt.
Auch deshalb muss sich Hummels wohl keine Sorge um seinen Stammplatz machen, selbst wenn ein Süle oder Rüdiger gegen Schweden groß aufspielen sollten. Mit seinen Fähigkeiten ist er zu wichtig fürs Team, dazu gehört er zu den Führungsspielern - mit diesen Pfunden können weder Süle noch Rüdiger wuchern. Ein Schicksal wie Per Mertesacker, der im Laufe der WM 2014 auf die Bank verdrängt wurde, droht ihm nicht.
Der Bundestrainer wollte sich am Freitag noch nicht in die Karten gucken lassen. Er blieb beim Hummels-Ersatz ebenso vage wie bei der Frage nach Mesut Özil oder der Option Mario Gomez statt Timo Werner in der Spitze. Dass er jedoch erneut darauf pochte, an seinen Weltmeistern festzuhalten und sich im eigenen Spiel nicht zu sehr nach dem Gegner zu richten, spricht gegen allzu viele Wechsel in der Startelf. Nach nur einem Spiel alles infrage zu stellen, wäre "fatal".