Ein Grenzgänger

Von Stefan Rommel
Davie Selke traf in vier EM-Spielen insgesamt schon sechs Mal ins Schwarze
© getty

Davie Selke ist plötzlich ins Rampenlicht gerückt. Bei der U-19-Europameisterschaft trifft der junge Bremer nach Belieben und steht mit der DFB-Auswahl im Finale gegen Portugal (19 Uhr im LIVE-TICKER). Im Alltag nach dem Turnier wird er sich aber erst seiner bisher größten Herausforderung stellen müssen.

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Frank Baumann ist nach Budapest gereist. Bei Werder Bremen steht Baumann dem Bereich Profifußball und Scouting als Direktor vor und in dieser Funktion wird er sich beim U-19-Finale um Europas Krone seinen Spieler Davie Selke ganz genau anschauen.

Selke, 19 Jahre jung, 1,92 Meter groß, Mittelstürmer, füllt im Moment einige Seiten einiger Sportteile, vom "Spiegel" bis zur "Bravo Sport" ist da alles dabei. Bei der Europameisterschaft hat er auf sich aufmerksam gemacht.

Sechs Tore hat er in vier Spielen bereits erzielt, womöglich wird er nach dem Finale gegen Portugal als bester Torschütze des Turniers ausgezeichnet. In Deutschland hat sich Selke quasi aus dem Nichts in das vorübergehende Rampenlicht geschossen; alle Partien der EM wurden live im Fernsehen gezeigt und seit dem Titelgewinn der A-Nationalmannschaft in Brasilien sind ohnehin fast alle Fans noch ein wenig berauscht.

TV-Präsenz statt Nebenplatz

Für Selke, Sohn einer Tschechin und eines Äthiopiers, aufgewachsen in Schorndorf bei Stuttgart, ausgebildet im Nachwuchsleistungszentrum des VfB, später bei 1899 Hoffenheim und seit anderthalb Jahren ein Bremer, sind diese Tage sicherlich die außergewöhnlichsten seiner noch sehr jungen Karriere. Eine vorerst flüchtige Ausnahme.

Die Realität heißt "Platz 11", im Schatten des Weserstadions geht Selke normalerweise auf Torejagd. Fernsehteams sind hier eher selten anzutreffen und mehr als 400 Zuschauer verlieren sich eigentlich auch nie zu den Spieler von Werders U 23 in der Regionalliga Nord. Ein paar Mal hat er auch schon bei den Großen reinschnuppern dürfen. Robin Dutt hat ihn in der abgelaufenen Saison fünfmal in Werders Kader berufen und dreimal dann sogar ins Spiel geworfen.

Eichin über Selke: "Andere Klubs können sich Anrufe sparen"

Das war in der Vorrunde. In der Rückserie hieß die Wirklichkeit dann nicht mehr Schalke, Dortmund oder Bayern, sondern Norderstedt, Meppen und Havelse. Und jetzt wieder die Europameisterschaft, die besten Junioren Portugals, das Finale. Der Spagat ist nicht nur auf dem Papier enorm und die Erkenntnis, dass sich Selke ebenso wie seine Mitstreiter im Team von Trainer Marcus Sorg in der heikelsten Phase ihrer Laufbahn befinden, verstärkt den Druck nur noch mehr.

Übergang als kritischste Phase

Davie Selke steht wie die anderen an der Schwelle zum "richtigen" Profifußball. Bisher ging es im Zwei-Jahres-Rhythmus immer in die nächste Altersstufe, mit allen seinen Vor- und Nachteilen: Als jüngerer Jahrgang in einem U-Bereich hat man mit den körperlichen Defiziten gegenüber den Älteren zu kämpfen, ein Jahr später gehört man selbst zu den Größeren und Erfahrenen.

Die Leistungen der Spieler schwanken auch deshalb stark. Selke hatte noch Glück, er war schon immer relativ groß und robust, hat sich im Zweikampf als Angreifer nichts gefallen lassen. In den Jugendmannschaften hat man noch am ehesten die Möglichkeit, seine körperliche Unterlegenheit durch Stärken in anderen Bereichen zu kompensieren. Je näher aber der Erwachsenenbereich rückt und am Ende vielleicht sogar die Bundesliga, desto schwieriger wird es.

Nicht umsonst gilt der Übergang vom Junioren- in den Herrenbereich als kritischste Phase der jungen Spieler. Hier vollzieht das Profigeschäft nochmals eine letzte, harte Auslese - nachdem vorher in den U-Mannschaften schon etliche hoffnungsvolle Talente den Ansprüchen nicht mehr genügen konnten.

Großer Schritt in den Profibereich

Die jungen Erwachsenen können schon rüberspitzen in das gelobte Land, trainieren bei den Profis mit, werden ab und zu auch schon in der Bundesliga eingesetzt. Einige spornt das nur noch mehr an, den letzten Schritt beherzt und entschlossen zu machen. Andere lassen sich blenden und verführen und verlieren das Ziel aus den Augen.

Werder-Ikone Baumann formuliert es im Fall Selke so: "Es ist etwas anderes, ob man seine Tore in einer der stärksten Ligen der Welt schießen muss oder gegen Gleichaltrige." 14 Treffer hat Selke in 14 Spielen bei der deutschen U 19 erzielt, sechs davon in den bisher vier Partien beim Endturnier. In der 4. Liga waren es in 26 Spielen zuletzt "nur" neun Tore.

Der Schritt selbst in den niedrigen Profibereich ist für die meisten Jugendspieler enorm. Die Gegenspieler sind dann nicht mehr gleich alt und (un-)erfahren, die meisten kennen zumindest diese Liga, einige haben sogar schon in der dritten, zweiten oder in der Bundesliga gespielt.

Hoffenheim verkannte das Talent

In Hoffenheim hatten sie ihm den Sprung ins Profiteam nicht zugetraut. Die damaligen Verantwortlichen legten ihm keine Steine in den Weg, als er im Winter 2013 nach Bremen umsiedeln wollte. 50.000 Euro soll die Ablösesumme betragen haben.

Dass sein Vater Teddy mit in den Norden ziehen konnte, war in der Entscheidungsfindung enorm wichtig. "Zu dem Zeitpunkt, als sich mein Wechsel nach Bremen angedeutet hat, wurde in seinem Unternehmen eine Stelle für den Bereich Bremen und Flensburg frei. Da hat er mir angeboten, mich zu begleiten", sagt Selke.

"Es ist einfach schön zu wissen, dass, wenn man nach Hause kommt, dort eine vertraute Person ist, mit der man über alles sprechen kann. Er ist zwar mein größter Kritiker, zugleich aber auch mein größter Förderer."

Typ Mittelstürmer

Sein Spiel ist sehr athletisch und nur selten filigran. Wer es gut mit ihm meint, zieht Mario Gomez als Vergleich heran. Wieder andere würden sich eher auf die Augsburger Wuchtbrumme Sascha Mölders einlassen. Mit dem Ball am Fuß ist er nicht eben leichtfüßig und wirkt technisch noch nicht voll entwickelt.

Er spekuliert gerne, wandelt am Rande der gegnerischen Viererkette, um dann mit Zug hinter die Linie zu sprinten. Im Spielfluss der Mannschaft nimmt er als vorderste Anspielstation zwar teil, aber er ist im Aufbau kein entscheidender Faktor. Auch, weil er seine Position klar definiert und nur selten aus dem Zentrum weicht.

"Ich bin kein Spieler für die Zehner-Position oder so etwas. Ich fühle mich in der Sturmspitze am wohlsten. Ich komme sehr über die Arbeit und über das Spiel gegen den Ball", sagt er und verlässt sich dabei auch auf ein ziemlich ausgeprägtes Selbstvertrauen. "Ich verlasse mich auf meinen Instinkt. Meistens stehe ich dann richtig und kann die Tore erzielen. Ich mache mir keine großen Gedanken. Wenn ich eine Chance habe, ist der Ball oft auch drin."

Wie geht es weiter?

Am Donnerstagabend könnte er den ersten großen Titel seiner Karriere holen, zusammen mit jenen Jungs, die vor zwei Jahren bei der U-17-EM auf denkbar knappe Art und Weise noch im Finale gescheitert waren. Er wird auf jeden Fall zu einer der prägenden Figuren dieser EM gehören, egal was passiert.

Das flüchtige Hoch weckt Begehrlichkeiten anderer Klubs - und vielleicht auch beim Spieler selbst. In Bremen hat Selke noch einen Vertrag bis 2015. "Wir wollen verlängern. Wir müssen schauen, ob er das auch will", sagt Werders Geschäftsführer Sport Thomas Eichin. "Wir haben schon mit Davie und seinem Berater gesprochen. Wir wollen ihm bei Werder eine Perspektive bieten."

Sportdirektor Rouven Schröder hat bereits anklingen lassen, dass eine Vertragsverlängerung durch Selkes Leistungen bei der EM nicht eben einfacher werden könnte. "Davie ist bei anderen Klubs auf dem Schirm. Aber wir wollen den nächsten Schritt mit ihm machen, ihn von unserem Weg überzeugen."

Selke selbst will sich noch nicht festlegen. "Ich habe in Bremen einen Vertrag bis 2015. So lange werde ich für Werder alles geben. Was danach passiert, kann ich noch nicht sagen", sagt er. Zumindest die nahe Zukunft nach der EM dürfte aber schon klar sein.

Am Sonntag soll sich Selke beim Tag der Fans und dem abschließenden Testspiel gegen den FC Chelsea den Werder-Anhängern präsentieren. Am besten natürlich als Europameister. Eine Woche später setzt dann der Alltag wieder ein. Regionalliga Nord, Werder II gegen den BSV Rehden. Im Schatten des Weserstadions, auf Platz 11.

Davie Selke im Steckbrief

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