Frage: Herr Bierhoff, haben Sie so etwas schon mal erlebt?
Oliver Bierhoff: Das heute war schon extrem. Ein 4:0 abzugeben in einem Spiel, das man 60 Minuten mehr als dominiert und in dem man den Gegner voll im Griff hat, ist schon ernüchternd. Aber wir hatten das ja vorher schon angesprochen: Wir haben das Problem, das wir häufig durch Nachlässigkeiten den Gegner wieder ins Spiel bringen. Dann lassen wir nach und vergessen, den Sack zuzumachen. Das ist uns heute auch wieder nicht gelungen. Und irgendwo fehlt dann etwas, das gerade in kritischen Momenten gefragt ist.
Frage: Hätte sich von außen etwas ändern lassen, zum Beispiel durch einen weiteren Spielerwechsel?
Bierhoff: Zu Auswechslungen kann ich jetzt auch nichts sagen. Häufig ist es aber so ja, dass man den Bruch nicht zu stark haben will und zu viele Spieler wechselt. Zum Beispiel ist Marco Reus in der zweiten Halbzeit etwas abgetaucht, da fand ich es konsequent, dass er da einen Wechsel vorgenommen hat. Oder bei Götze für Müller, weil der Mario einer ist, der den Ball halten kann. So hätte man ein bisschen Ruhe ins Spiel bringen können. Also die Auswechslungen waren kein Thema.
Frage: Haben Sie einen Spieler vermisst, der ein Zeichen setzt und das Spiel in der schwierigen Phase an sich reißt?
Bierhoff: Wir haben aufgehört zu spielen und Schweden bekommt auf einmal die Initialzündung. Wir hatten aber erfahrene Spieler auf dem Platz, die in ihren Vereinen auch international spielen. Wir müssen das nicht an einer Person festmachen. Aber wir müssen einfach lernen, in diesen Momenten der Schwierigkeit den Kopf zu bewahren, wieder ein System reinzubringen und zu unserem Spiel zurückzufinden. Das ist uns heute in keiner Weise gelungen.
Frage: Es gab einen Freistoß in der letzten Minute für Deutschland. Der wurde zurückgespielt, statt sich mit dem Ball Richtung Eckfahne zu begeben und die Zeit verrinnen zu lassen. Daraus resultierte dann letztlich der Ausgleich. War das nicht signifikant?
Bierhoff: Wir haben in den letzten 30 Minuten häufig die Fehler gemacht, die Jogi Löw angesprochen hat, welche wir gegen Österreich gesehen haben. Also unter anderem ständige Rückpässe zu Manuel Neuer, der dann lange Pässe spielt. Und das gerade gegen einen kopfballstarken Gegner wie die Schweden - anstatt den Ball einfach mal zu halten oder wie in dieser letzten Szene zur Eckfahne zu gehen. Das wird dann eben bestraft.
Frage: Es gab nicht den klassischen Bruch im deutschen Spiel. Aber wann haben Sie gespürt, dass das noch schief gehen könnte?
Bierhoff: Das ist ein psychologisches Ding. Beim 4:1 denkt man sich das vielleicht noch nicht. Beim relativ schnell folgenden 4:2 denkt man: 'Jetzt muss man aufpassen.' Dann lauert die Gefahr: Wie kann man innerhalb des Spiels doch wieder den Stecker reinstecken und umstellen? Dann merkt man, dass der Gegner neue Moral findet und man selbst ängstlicher wird, die Mechanismen funktionieren nicht mehr. Deshalb ist es wichtig, dass wir das lernen, in solch schwierigen Momenten wieder zu unserer Linie zu finden.
Frage: Wie hätte die Mannschaft nach dem 4:2 denn spielen müssen?
Bierhoff: Es gab so fünf Minuten, in denen ich das Gefühl hatte, dass wir die Kontrolle wieder gewonnen hatten nach dem 4:2. Und eigentlich müssen wir es mit unserer technischen Qualität schaffen, den Ball zu halten und nach vorne zu spielen und gerade beim Passspiel noch konzentrierter zu sein. Wir hätten mehr über die Sicherheit reinkommen müssen und nicht leichtfertig die Bälle verlieren oder zurück spielen. Sicherheit und Ballkontrolle hätten gereicht, wir mussten ja kein Tor schießen.
Frage: Bastian Schweinsteiger sieht sich selbst als Führungsspieler. Hatten Sie von ihm nicht erwartet, da heute mehr voranzugehen?
Bierhoff: Ich möchte das nicht an einer Person festmachen. Bastian Schweinsteiger war vor der EM ein Problem, dann hat er beim letzten Spiel gefehlt, dann war es ein Problem, wenn er nicht da war. Das ist immer eine Diskussion, die ihr Medien dann führt. Ich glaube, dass da nicht nur ein Spieler gefordert ist, sondern mehrere. Gerade natürlich die mit Erfahrung. Ich weiß natürlich auch, dass es häufig in einer Kettenreaktion so ist, dass man keinen Tritt fasst. Und das war heute der Fall.
Frage: Kann man diese Mentalität einer Mannschaft beibringen? Oder hat man sie oder man hat sie nicht?
Bierhoff: Man kann sicherlich lernen und muss Dinge aufzeigen. Man lernt durch Negativerlebnisse und schwierige Phasen. Ich hoffe jetzt, dass uns gerade das jetzt auch weiterbringen wird. Aber das ist keine Sache, die man einmal sagt und dann umsetzt. Aber man hofft, dass wir dies in Zukunft besser machen.
Frage: Muss man die Mannschaft jetzt hart anfassen oder streicheln?
Bierhoff: Jetzt sind sie ja erst mal wieder bei den Vereinen... Aber wichtig ist, den Finger in die Wunde zu stecken. Wir dürfen da nicht zur Tagesordnung übergehen. Für uns ist das immer schwer, weil jetzt ja erst wieder eine Pause kommt und dann ein Freundschaftsspiel. Dann weiß man nicht, welchen Kreis man hat. Wir haben das nach dem Österreich-Spiel gemacht und auch jetzt wird man knallhart analysieren und klar die Fehler ansprechen. Das müssen wir aufzeigen. In der Hoffnung, dass es nach wiederholter Anweisung auch irgendwann in den Kopf reingeht und da klick macht.
Frage: Es gab auch ja etliche positive Momente im Spiel. Hat es Sie überrascht, wie rauschhaft die Mannschaft über Strecken der Partie kombiniert hat?
Bierhoff: Überrascht nicht. Was in der Mannschaft drinsteckt, hat sie mir über 60 Minuten lang gezeigt. Und wenn man konzentriert ist und diese kurzen Wege geht und miteinander kombiniert, ist es für jede Mannschaft schwer. Selbst für die Schweden, die nur hinten drin stehen und dicht machen. Mich hat das nicht überrascht. Wir kennen das Potenzial, müssen das aber auch 90 Minuten abrufen
Deutschland - Schweden: Daten und Fakten zum Spiel