FC Bayern München, Real Madrid, Juventus Turin: Ajax Amsterdam hat auf dem Weg ins Halbfinale bei weitem keine einfachen Gegner gehabt. Und doch hat die junge Mannschaft von Erik ten Hag am Mittwochabend vor eigenem Publikum die Chance, das erste Finale der Champions League seit 1996 zu erreichen.
Der 1:0-Hinspielsieg bei Tottenham Hotspur wird an der Herangehensweise der Niederländer kaum etwas ändern. Wer eine Abwehrschlacht erwartet, denkt falsch. Vielmehr dürfte auch im Rückspiel das bekannte Gesicht Ajax' zu erkennen sein: Offensive, viel Ballbesitz und durchaus riskante Abwehrarbeit.
Ob Utrecht oder Juventus - Erik ten Hag baut auf vertraute Grundprinzipien, die er nur mit kleinen Stellschrauben verändert, um sich den Begebenheiten anzupassen. Ajax ist neben dem FC Liverpool vielleicht die Mannschaft, die im Laufe der Champions League ihren Stil am deutlichen unterstrich.
Die Endspiele von Ajax Amsterdam in der Champions League
Saison | Ort | Sieger | Finalist | Ergebnis |
1968/1969 | Santiago Bernabeu, Madrid | AC Milan | Ajax Amsterdam | 4:1 |
1970/1971 | Wembley, London | Ajax Amsterdam | Panathinaikos | 2:0 |
1971/1972 | De Kuip, Rotterdam | Ajax Amsterdam | Inter Mailand | 2:0 |
1972/1973 | Stadion Roter Stern, Belgrad | Ajax Amsterdam | Juventus | 1:0 |
1994/1995 | Ernst-Happel-Stadion, Wien | Ajax Amsterdam | AC Milan | 1:0 |
1995/1996 | Olympiastadion, Rom | Juventus | Ajax Amsterdam | 4:2 n.E. |
Ajax Amsterdam unter Erik ten Hag: Johan Cruyff wäre stolz
Alles beginnt mit dem Ball. Ajax ist ganz grundlegend eine sehr gute Ballbesitzmannschaft mit dafür üblichen Ideen. Die Spieler eröffnen das Spiel nach Möglichkeit kurz und überlegt, sie nutzen kurze Pässe, um gemeinsam fortzuschreiten und früher oder später geschlossen die Mittellinie zu überqueren.
Dafür manipulieren sie die gegnerische Formation, überladen eine Seite, um dann auf die andere zu wechseln und positionieren sich so zwischen den gegnerischen Linien, dass ihre direkten Gegenspieler Übersicht und Zuordnung verlieren. Nach einem Ballverlust wird schnell nachgesetzt und der Konter am besten schon verhindert, bevor überhaupt ein öffnender Ball gespielt werden kann.
Dass die Niederländer dieses Spiel auf ein sehr gutes Niveau gehoben haben, steht außer Frage. Wirklich außergewöhnlich ist es aber nicht. Johan Cruyff wäre stolz auf diese Mannschaft, die seine Ideen zu einem großen Teil sehr gut umsetzt. Was den Erfolg der Mannschaft noch spannender macht, sind die kleinen Details, die ten Hag mit seinen Spielern erarbeitet hat.
Grafik: Ajax überlädt die rechte Seite massiv und befreit damit im weiteren Verlauf der Szene Linksverteidiger Nicolas Tagliafico, der unbedrängt abziehen darf. Positiver Nebeneffekt: Bei Ballverlust kann direkt nachgesetzt werden.
Ajax Amsterdam greift auf viele Aufbauvarianten zurück
Schon bei der Spieleröffnung zeigt sich, wie elegant Ajax auch Drucksituationen auflösen kann. Variantenreich wird das Spiel vom Torhüter eröffnet. Meist stehen die Innenverteidiger breit neben dem Strafraum, aus dem doppelten zentralen Mittelfeld, ein deutlicher Unterschied zum sonst üblichen 4-3-3 mit einzelnem Sechser, kann ein Akteur den Ball abholen.
Das ist allerdings nur eine Variante. Weitere sind zum Beispiel hohe Bälle von Torhüter Andre Onana auf die Außenverteidiger. Oder der zweite Sechser, meist Frenkie de Jong, fällt links heraus, während der erfahrene Daley Blind in die Mitte einer situativen Dreierkette mit Matthijs de Ligt halbrechts rutscht.
Das Ziel bleibt dabei der Aufbau einer Raute mit drei möglichen Passoptionen für den Ballführenden. Immer wieder sucht Ajax auch einen Weg entgegen der Laufrichtung der pressenden Stürmer und durchbricht damit praktisch horizontal eine Linie, um dann auf der anderen Seite das Spiel anzuschieben und Meter zu gewinnen.
Grafik: Frenkie de Jong ist links herausgefallen, um das Pressing der Spurs zu umspielen. Ajax wechselt damit in eine situative Dreierkette, ohne das Mittelfeld zu entblößen.
Ajax Amsterdam setzt gegnerischen Strafraum massiv unter Druck
Ergänzt wird das Ballbesitzsspiel von zahlreichen Rotationen im Mittelfeld und im Angriff. Aus der 4-2-3-1-Grundordnung wird in der Offensive oftmals ein 2-2-5-1, bei dem die offensiven Flügelspieler und die Außenverteidiger mit der Besetzung von Halbraum und Flügel abwechseln. Das ermöglicht relativ freie Wechselbewegungen ohne dem Gegner zu große Konterräume anzubieten.
Wiederholt kommen dann Spieler aus der letzten Reihe, etwa der flexibel einsetzbare Dusan Tadic entgegen, während andere Spieler die gegnerische Abwehrkette bedrängen. Das Ziel von Ajax ist es, einen Spieler so zu befreien, dass er mit dem Gesicht zum gegnerischen Tor einen Pass spielen kann. Das funktioniert über das Spiel über den Dritten oder eben das Entwischen vom Gegenspieler und dem unbedrängten Aufdrehen.
Da die Mannschaft geschlossen vorrückt, können verschiedenste Spieler mit Tempo nachstoßen und werden nicht vom Abseits bedroht. Die Wechselwirkung Tadics mit Donny van de Beek hat sich bezahlt gemacht: Der eigentliche Mittelfeldspieler ist in der Champions League für die ganz wichtigen Tore verantwortlich.
Die gewaltige Offensivpower hat allerdings nicht viel Wert ohne eine passende Absicherung. Ajax bringt in Ballbesitz viele Spieler vor den Ball, hält aber mit kurzen Pässen die Nähe zueinander und agiert teilweise mit bis zu neun Spielern in einer horiontalen Feldhälfte. Das ermöglicht das direkte Nachsetzen und hält die Laufwege nach einem Ballverlust gering.
Grafik: Hakim Ziyech konnte vor der Defensive Tottenhams aufdrehen. Der Strafraum der Engländer ist bereits massiv unter Druck, Ziyech steckt auf Donny van de Beek durch, der die Führung erzielt.
Spieler erwecken System von Erik ten Hag zum Leben
Ten Hag vereint bei Amsterdam kollektive Ideen (Ballbesitzspiel und Gegenpressing) mit den individuellen Qualitäten seiner Spieler. De Jong kann seine Fähigkeiten aus der Tiefe kommend ausspielen, Nicolas Tagliafico seinem Offensivdrang nachkommen, Tadic sich frei bewegen und van de Beek seinen als Mittelfeldspieler hervorragenden Abschluss einbringen.
Auch die Flügelspieler David Neres und Hakim Ziyech profitieren davon, dass sie in Ballbesitz nach innen ziehen dürfen und nicht die Breite halten müssen. Das Cruyff'sche Grundgerüst mit Einflüssen von ten Hag wird entsprechend erst von den einzelnen Spielertypen so richtig zum Leben erweckt.
Das ist, gänzlich unabhängig vom Abschneiden gegen die Tottenham Hotspur am Mittwochabend, ein Fingerzeig für die Zukunft: Ajax wird im Sommer ohne Frage an Qualität verlieren, bietet jedem Neuzugang aber eine gute Grundlage, um sich einzufinden. Ten Hag wird trotzdem gefragt sein, das Team im Sommer anhand gegebener Eckpfeiler neu auszurichten.