Das Trauma Schwarzenbeck

Von Max Schöngen
Katsche Schwarzenbeck erzielte im Endspiel 1974 kurz vor Schluss den Ausgleich
© imago

Zum zweiten Mal in der Vereinsgeschichte steht Atletico Madrid im Finale der europäischen Königsklasse. 1974 erlebten die Rojiblancos einen dramatischen Abend mit einem grausamen Ausgang. Es ist die Geschichte von Hans-Georg Schwarzenbeck.

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Große Siege erzählen automatisch auch immer die Geschichte von großen Niederlagen. Den Helden auf der einen, stehen die Geschlagenen auf der anderen Seite gegenüber. Jene über die man auch noch in der Ewigkeit spricht. Wenn Atletico Madrid am Samstag in Lissabon zum Finale der Champions League aufläuft, werden nicht wenige Fans der Rojiblancos zurückdenken an das bis dato letzte Finale ihrer Mannschaft im Finale der Königsklasse. Fast auf den Tag genau 40 Jahre ist das her.

Selbst diejenigen, die damals noch nicht auf der Welt waren, wissen Bescheid über jenen Abend am 15. Mai 1974. Bis heute haftet dieses Spiel dem Klub an, als man eigentlich schon als Sieger feststand, um dann die Grausamkeit des Fußballs zu erfahren.

Wachablösung in Europa

Der FC Bayern München und Atletico Madrid standen sich gegenüber im Finale um den Europapokal der Landesmeister im Brüsseler Heysel-Stadion. Drei Mal hatte Ajax Amsterdam zuvor den Titel gewonnen, nun stand eine Wachablösung in der damaligen Königsklasse an.

Beiden Teams war die große Nervosität deutlich anzumerken, könnte man sagen. Oder: Die Mannschaften neutralisierten sich weitestgehend. Taktisches Geplänkel hüben wie drüben. Kurz gesagt: Das Finale hielt wie so oft nicht, was ein Finale verspricht und die 49.000 Zuschauer wurden Zeuge einer überwiegend schwachen Partie.

Vielmehr verstanden sich die Kontrahenten darauf, Fehler zu vermeiden, um nicht in Rückstand zu geraten. Das gelang. Nach 90 Minuten stand es 0:0, die Verlängerung musste her und zunächst änderte sich nichts am torlosen Remis.

Aragones schockt Bayern

Zumindest bis zur 114. Minute, als den Spaniern ein Freistoß auf der halblinken Seite zugesprochen wurde. Die Zeit für den großen Auftritt von Kapitän Luis Aragones war gekommen. Der spätere Trainer der spanischen Nationalmannschaft legte sich den Ball zurecht, nahm Maß und zirkelte den Ball gekonnt über die Mauer ins Tor der Bayern. Keine Chance für Sepp Maier. Atletico im Jubelrausch, die Bayern am Boden.

Nichts, wirklich nichts sprach in diesem Moment für die Münchener. Sechs Minuten blieben, um ein Tor zu erzielen. 114 Minuten des vergeblichen Anlaufens lagen bereits hinter der Mannschaft von Udo Lattek, die Kräfte am Schwinden, musste ausgerechnet gegen diese Mannschaft, mit dieser Abwehr ein Tor her. Ganze zwei Gegentore hatte die berüchtigte Defensive um Eusebio Bejarano und Ramon Heredia auf dem Weg ins Finale zugelassen, in sieben Partien hatten sie den Kasten sauber gehalten.

Die folgenden Minuten waren ein Abziehbild dieser beeindruckenden Statistik. Die Spanier standen hinten sicher und befreiten sich ein ums andere Mal aus den Fängen der Bayern, denen weniger und weniger einfiel. Noch drei Minuten. Nichts zu sehen von Gerd Müller, nichts von Uli Hoeneß und auch Franz Beckenbauer war mit seinem Latein am Ende. Sämtliche Offensivbemühungen der Bayern waren zu durchschaubar. Weitere Minuten des blinden Anrennens verstrichen. Die Mannschaft von Taktikfuchs Juan Carlos Lorenzo schien auf alles vorbereitet, was vonseiten der Bayern kam. Auf fast alles.

"Halb Mensch, halb Stier"

Zwanzig Sekunden vor Schluss starteten die Münchener den letzten Angriff, der Legende nach soll der belgische Schiedsrichter Vital Loraux zu diesem Zeitpunkt die Pfeife bereits im Mund gehabt haben. Der Moment war gekommen, in dem sich ein Spieler der Bayern zum ersten und wohl auch zum letzten Mal aus dem Schatten von Beckenbauer heraus begab, um seine eigene Geschichte zu schreiben. Hans-Georg Schwarzenbeck, auch bekannt als "Katsche", "Putzer des Kaisers" oder auch "des Kaisers Adjutant".

Als "halb Mensch, halb Stier" wurde er einst von einem holländischen Journalisten klassifiziert. Einem, dem in den Überlegungen von Udo Lattek bei den Bayern und denen von Helmut Schön in der Nationalmannschaft nur eine Aufgabe zu Teil wurde: Franz Beckenbauer den Rücken freizuhalten. Abräumer, Ausputzer oder Vorstopper, heute würde man ihn wohl als die klassische Sechs einordnen. Katsche war einer fürs Grobe, für die Drecksarbeit in der Defensive, keiner für die Offensive. Nur mit der Genehmigung von Beckenbauer durfte er die Mittellinie überqueren, hieß es.

Auch in diesem Spiel hatte Katsche seine Aufgabe erfüllt und Atleticos gefürchteten Angreifer Jose Garate aus dem Spiel genommen. Und nun in dieser 120. Minute bekam ausgerechnet er, der sonst nicht den Hauch von Torgefahr ausstrahlte, rund 30 Meter vor dem gegnerischen Tor den Ball zugespielt. Wie groß muss die Verzweiflung des Kaisers in diesem Moment gewesen sein, dass er den Ball auf seinen Adjutanten spielte. Die Spanier hatten wohl mit vielem gerechnet, aber nicht mit Schwarzenbeck. Der legte sich den Ball zwei Meter vor, nahm Anlauf und drosch drauf. Der Ball schlug im linken unteren Eck ein.

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"Wusste nicht wohin mit dem Ball"

Entsetzen bei Atletico, unbeschreiblicher Jubel bei Bayern. Die einen Spieler lagen sich in den Armen oder rissen jene hoch, die anderen lagen am Boden. Ausgerechnet Schwarzenbeck, einfach nur aberwitzig. Es war eines von zwei Toren in seiner Europapokal-Karriere.

Aberwitzig auch deshalb, weil nicht mal mehr die Bayern noch damit gerechnet hatten: "Er wusste gar nicht, wohin mit dem Ball, da hat er einfach draufgehalten. Ich war schon auf dem Weg in die Kabine, guckte nur über die Schulter und sehe wie der Ball einschlägt. Ein unglaubliches Ding", erinnerte sich Udo Lattek Jahre später an die Szene, die in der Geschichte des FC Bayern den Beginn der erfolgreichsten Ära einleitete.

Sündenbock Reina

Doch nicht nur Udo Lattek und die Bayern hatten nicht mehr mit dem Ausgleich gerechnet. Auch die Rojiblancos wähnten sich bereits am Ziel, als Schwarzenbeck in den letzten Sekunden den Ball zugeschoben bekam und abzog.

Bis heute hält sich das Gerücht, dass sich Atleticos Schlussmann Miguel Reina, Vater von Pepe Reina, in diesen letzten und entscheidenden Sekunden bereits seiner Handschuhe entledigt hatte, um für einen Fotografen der spanischen Sportzeitung "Marca" zu posieren. Auch deshalb soll Reina nicht an den Schuss von Schwarzenbeck herangekommen sein. Hatten die Bayern in Schwarzenbeck ihren Helden gefunden, so musste bei den Spaniern Reina als Sündenbock herhalten.

Noch heute kämpft Reina mit dieser Geschichte, unzählige Versuche des Abstreitens haben nichts gebracht, die Legende um seine Schuld an diesem Gegentreffer hat sich bis heute gehalten und dies wird sich auch in Zukunft nicht ändern.

Zwar gibt es TV-Aufnahmen von diesem denkwürdigen Spiel, was Reina aber in den Sekunden vor dem Ausgleich machte, ist einfach nicht ersichtlich. Auch Stunden nach dem Spiel soll der Atletico-Schlussmann unauffindbar gewesen sein, ehe er weinend in der Schiedsrichterkabine liegend entdeckt wurde.

Da stand es also 1:1 und nicht etwa ein Elfmeterschießen sollte über den Ausgang des Finals entscheiden, sondern ein Wiederholungsspiel zwei Tage später am selben Ort. Es müssen zwei fürchterliche Tage für die Spieler aus Madrid gewesen sein, wissend wie nah man dem Triumph bereits war. Es war der verzweifelte Versuch, sich auf das erneute Aufeinandertreffen einzulassen und vorzubereiten.

"Er macht sie alle fertig"

Letztlich ist die Geschichte des Widerholungsspiels schnell erzählt. Atletico hatte nicht den Hauch einer Chance und ging sang- und klanglos unter. Wenn Uli Hoeneß über das beste Spiel seiner Karriere spricht, dann meint er diese Partie am 17. Mai in Brüssel.

Zwei Tore steuerte er zum 4:0-Erfolg bei, die beiden anderen besorgte Müller. Unvergessen der Kommentar des damaligen TV-Berichterstatters Oskar Klose, als Hoeneß die Abwehr der Spanier umkurvte und zum Endstand traf: "Er macht sie alle fertig!" Gewissermaßen waren die Spanier jedoch schon zwei Tage zuvor fertig gemacht worden.

Seit 40 Jahren quälen sich Verantwortliche, Spieler und Fans des Vereins mit dieser Geschichte, in Lissabon bietet sich die Gelegenheit, dieses hässliche Kapitel der Vereinsgeschichte ein Stück weit erträglicher zu gestalten und zu holen, was ihnen einst von Katsche Schwarzenbeck genommen wurde.

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