Einmal Hölle und zurück

Von Marco Kieferl
Gianfranco Zola zerstörte mit seinem 3:0 die Champions-League-Träume der Istanbuler Fans
© getty

Vor dem entscheidenden Champions-League-Gruppenspiel zwischen Galatasaray Istanbul und dem FC Chelsea 1999 brodelte die Luft. Türkische Fans beschworen die Hölle von Istanbul und erlebten ihr blaues Wunder. Dabei war die historische 0:5-Klatsche der Auftakt auf dem Weg zum Fußball-Märchen von Kopenhagen. Im Achtelfinal-Hinspiel (20.45 Uhr im LIVE-TICKER) hofft Gala auf Wiedergutmachung für die Klatsche von 1999.

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"Welcome to the hell, Chelsea Bastards". Als die Spieler des FC Chelsea im Oktober 1999 vor dem Rückspiel gegen Galatasaray am Flughafen von Istanbul ankamen, empfingen sie die türkischen Fans alles andere als gastfreundlich. Auch ansonsten herrschte nach dem knappen 1:0-Hinspielsieg der Blues dicke Luft.

"Wir sind im Hinspiel sehr schlecht behandelt worden. Ich glaube, dass es kein freundschaftliches Spiel wird", prophezeite Galas damaliger Trainer Fatih Terim. Dabei waren es nicht nur umstrittene Schiedsrichterentscheidungen und die Rote Karte für Stammtorhüter Claudio Taffarel, die die Löwen in Aufruhr versetzten.

Auch die Ausgangslage beider Teams gab der Begegnung am vierten Spieltag der Gruppenphase zusätzliche Brisanz: Nach Niederlagen gegen Milan und Chelsea, sowie einem Unentschieden gegen Tabellenführer Hertha standen die Hausherren gegen den Tabellenzweiten aus London mit dem Rücken zur Wand. Bei einer Niederlage drohte nicht nur das vorzeitige Aus in der Königsklasse, auch das Überwintern im damaligen UEFA-Cup wäre bei einem Mailänder Heimsieg Geschichte gewesen.

"Sein oder nicht sein"

Die türkische Sportzeitung "Fotomac" stellte das Moto für das Spiel auf: "Sein oder nicht sein". Fatih Terim ließ keinen Zweifel aufkommen, dass auch gegen den Europapokalsieger von 1998 mit seinen Weltstars um Gianfranco Zola, Dan Petrescu und Weltmeister Marcel Desailly nur Ersteres zutreffen konnte: "Wir werden es den Engländern heimzahlen", verkündete der Imperator.

Entgegen des türkischen Optimismus sollten jedoch die wenigen Chelsea-Fans im Ali-Sami-Yen-Stadion Recht behalten, die ihrerseits mit einem Plakat auf die türkische "Gastfreundlichkeit" reagierten: "'Welcome to hell' - We're not bothered".

Nach dreißig Minuten versetzte der an diesem Abend überragende Tore Andre Flo den Hausherren bereits den ersten Nackenschlag. Eine gute Stunde später war von der gelb-roten Hölle nicht mehr viel übrig: Nach weiteren Toren von Flo, Zola, Wise und Ambrosetti stand es am Ende 0:5. Mit der höchsten CL-Heimniederlage der Vereinsgeschichte war auch das Aus in der Königsklasse besiegelt.

"Auf Wiedersehen Träume, auf Wiedersehen Europa"

Bezeichnend für Galas Chancen- und Hilflosigkeit an diesem Abend war vor allem das 3:0 von Superstar Zola, der Ersatztorhüter Mehmet per Übersteiger umspielte und dann nur noch ins leere Tor einschieben musste.

Vom "schwarzen Mittwoch" war tags darauf in der türkischen Presse zu lesen und ein wenig vorschnell titelte man: "Auf Wiedersehen Träume, auf Wiedersehen Europa". Denn dank Milans Niederlage in Berlin gab es bei vier Punkten Rückstand auf Platz drei zumindest noch die theoretische Chance auf den UEFA-Cup.

Was folgte, war ein Stoff für Hollywood-Drehbücher: Denn Terim und Co. machten aus der bittersten Niederlage der Vereinsgeschichte am Ende eine Erfolgsstory.

Herzschlag-Finale gegen Milan

Grundstein dafür war ein taktisches Meisterstück von Terim, das jedoch zunächst auf wenig Gegenliebe stieß. Die türkische Trainerlegende hatte erkannt, dass Fanliebling und Superstar Tugay Kerimoglu neben Ausnahme-Könner Georghe Hagi zwar für viele Offensiv-Akzente sorgte, aber der Mannschaft mit seinen mageren Laufleistungen mehr schadete als nutzte. Zwei Häuptlinge waren einer zu viel. Allen Protesten zum Trotz setzte er fortan auf den erst 19-jährigen Emre.

Der spielte zwar auch spektakulär, bildete aber mit Okan Buruk und Suat Kaya auch ein laufstarkes Mittelfeld, das Freigeist Hagi den Rücken frei hielt. Bereits am nächsten Spieltag gelang mit einem 4:1 bei Tabellenführer Hertha BSC der erste Paukenschlag. Wenige Wochen später lag Galatasaray im Herzschlagfinale gegen Milan zweimal zurück, ehe Ümit Davala in der Nachspielzeit mit seinem Elfmetertor zum 3:2-Endstand das Tor zum UEFA-Cup aufstieß.

In der Folge setzte Gala in Europa zu einem regelrechten Höhenflug an. Über die Stationen Bologna, Dortmund, Mallorca und Leeds zog man schließlich ungeschlagen ins Finale gegen das favorisierte Arsenal ein. Von TV-Legende Ercan Taner, der jedes Spiel bis in Finale kommentierte, blieb ein Satz während des Finaleinzugs bis heute noch haften: "Deutsche, Italiener, Engländer - alles egal, du bist wunderbar, Galatasaray!"

Obst-Runden um drei Uhr morgens

Als erste türkische Mannschaft überhaupt stand Galatasaray in einem europäischen Pokalfinale: Zu diesem Zeitpunkt war Angstgegner Chelsea nach einem historischen 1:5 nach Verlängerung bereits im Champions-League-Viertelfinale am FC Barcelona gescheitert.

Doch nichts davon schien in der Nacht vor dem Finale zur Beruhigung der türkischen Nerven beizutragen. Noch spät am Abend überredeten mitgereiste Politiker den angespannten Terim zu einem Beruhigungs-Spaziergang.

Als dieser schließlich früh am morgen ins Hotel zurückkehrte, traf er auf einen Kellner, der um 3 Uhr noch Obst auf die Zimmer einiger Spieler brachte. Kurzentschlossen übernahm der Imperator selbst die Aufgabe des Kellners, versorgte seine Schützlinge mit Obst und redete sich mit seinen Spielern bis weit in den Morgen die Nervosität von der Seele.

Fußball-Märchen in Kopenhagen

Jene Reaktion erklärt, warum Stürmer Alif Erdem über ihn sagte: "Er ist die Seele des Vereins, der unbestrittene Führer. Er ist wie ein Vater und ein Bruder für uns." Terim selbst erzählte später, der Triumph von Kopenhagen wäre ohne jenen Vorfall nicht möglich gewesen.

Tags darauf hatte Galatasaray genug Chancen, das Finale schon nach 90 Minuten zu entscheiden, Hakan Sükür vergab aber beste Chancen. In der Verlängerung schien das Szenario zu kippen, als Hagi aufgrund einer Tätlichkeit gegen Ray Parlour die Rote Karte sah. Wenig später avancierte der gegen Chelsea noch rotgesperrte Claudio Taffarel zum Helden, als er einen Kopfball von Thierry Henry aus drei Metern Entfernung von der Linie kratzte. Den Rest besorgte im Elfmeterschießen Georghe Popescu, der den letzten Schuss verwandelte.

Der Rumäne schwärmte von einem "historischen Moment für die ganze Türkei" und wären die schweren Krawalle beider Fanlager nicht gewesen, hätte man tatsächlich von einem Fußball-Märchen sprechen können.

Supercup-Triumph ohne Terim und Co.

Ein Märchen, das nur wenige Monate später seine Fortsetzung fand, als Real Madrid sensationell mit 2:1 im Supercup-Finale geschlagen wurde. Doch damals war von den Euro-Helden erstaunlich wenig übrig geblieben.

Stürmerstar Hakan Sükür war im Sommer zu Inter Mailand gewechselt, Abwehrspezialist Capone wegen ausstehender Gehälter im Streit gegangen und selbst Volksheld Terim hatte zu diesem Zeitpunkt bereits in Florenz angeheuert. Später kehrte der Imperator noch zweimal zu den Löwen zurück.

Erinnerungen an 1999

Ausgerechnet Terims letzte Amtszeit endete zu Beginn der aktuellen Champions-League-Saison mit der höchsten Heimniederlage in der Europapokal-Geschichte. Doch auch nach dem 1:6 gegen Real rafften sich die Gelb-Roten auf und schafften in der dramatischen Schneeschlacht von Istanbul doch noch den Achtelfinaleinzug gegen Juventus Turin.

Manch einer in Istanbul beginnt angesichts der Parallelen schon wieder zu träumen. Doch vorher hofft Gala im Achtelfinalhinspiel gegen Cheslea auf Wiedergutmachung für die 0:5-Klatsche von 1999. Welcome to hell, Chelsea!

Galatasaray - Chelsea: Die Bilanz

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