SPOX: Die Intensität der Feierlichkeiten ließ erkennen, wie sehr das bayerische Selbstverständnis gelitten hatte. Wie hält man diesen schier übermenschlichen Druck von sich fern?
Jancker: Den Druck legte man sich selbst auf. Wenn man beim FC Bayern spielt, ist man daran gewöhnt. Da werden sie genau beobachtet, wenn zwei Spiele verloren gehen. Jedem sollte das bewusst sein. Das durfte nie als Ausrede dienen.
SPOX: Ausreden waren nach dem Finale 1999 deplatziert. Obwohl Sie damals Fußballgott gerufen wurden, schien Ihnen eine höhere Macht nicht gut gesinnt. Überkam Sie manchmal die Frage nach dem Warum?
Jancker: Wir trauerten den vergebenen Chancen nach, trafen einmal den Pfosten und die Latte. Wenn ich den Fallrückzieher einen halben Zentimeter anders erwische, geht er rein und wir gewinnen die Champions League. So starrten wir einander nach dem Schlusspfiff an, waren völlig leer. Wir konnten es nicht fassen.
SPOX: In München hätten Sie damals wohl Unsterblichkeit erlangt. Verfolgte Sie diese Aktion noch lange?
Jancker: Ich brauchte Monate, um es zu verdauen, habe wenig geschlafen. Meistens lag ich bis vier, fünf Uhr wach im Bett. Nicht durchgängig, mal war es drei Tage normal, bis die Gedanken an den Fallrückzieher und die Möglichkeiten wieder zurückkehrten. Irgendwann ist es allerdings genug.
SPOX: Zur Tagesordnung überzugehen, beinahe unmöglich: Sprach man mannschaftsintern darüber, oder schwieg es lieber tot?
Jancker: Es wurde thematisiert, aber nicht mehr. Uns blieb nichts übrig: Wir mussten und sind wieder zum Alltag zurückgekehrt, das half mir, damit umzugehen. Man konzentrierte sich auf neue Aufgaben, bejubelte im nächsten Jahr das Double. Das sprach für diese Mannschaft.
SPOX: Das Finale dahoam verlief ähnlich bitter - die Reaktion fiel ähnlich beeindruckend aus...
Jancker: Karl-Heinz Rummenigge meinte sogar, es sei eine noch schlimmere Niederlage gewesen. Da habe ich natürlich eine andere Empfindung.
SPOX: Einen psychischen Knacks ließ der FC Bayern keineswegs erkennen, stattdessen perfektionierte man die eigene Spielidee. In überlegener Manier die Vormachtstellung Borussia Dortmunds gebrochen, träumt eine Stadt nun vom Triple. Erneut im Finale zu unterliegen, käme einem Weltuntergang gleich. Stimmt das?
Jancker: So gestaltet sich das Anspruchsdenken. Drei Final-Teilnahmen in vier Jahren, das spricht für Verein und Kader. Die Auftritte überzeugten, sie wollen den Titel. Was sollen sie anderes sagen. Mit der Teilnahme in Wembley wird man sich nicht zufrieden geben, das würde nicht passen. Nachdem sie zwei Mal nicht Meister wurden, hinter dem BVB landeten, sind sie nochmals gewachsen. Sie haben aus ihren Fehlern gelernt und ziehen aus dem letztjährigen Tiefschlag die Kraft.
SPOX: Im Halbfinale wurde der FC Barcelona vorgeführt. Mitunter sind Hochkaräter wie Mario Götze für den Rekordmeister finanziell zu stemmen. Steuert man auf eine glorreiche Zukunft zu?
Jancker: Bayern hat die Philosophie geändert. Früher wollten sie kein Geld in die Hand nehmen. Jetzt sind sie bereit, Millionen zu investieren - und sind gesund. Auf dem Niveau eine Seltenheit. Dafür gebührt ihnen größter Respekt. Mal sehen, was der Trainerwechsel bringt. Wie Pep Guardiola seine Spielweise, mit dem Material, das ihm zur Verfügung stehen und möglichen weiteren Neuzugängen, umsetzt. Ich bin überzeugt, dass mit Bayern in den nächsten Jahren zu rechnen ist.
SPOX: Robert Lewandowski, gepriesen als bester Angreifer Europas, wird als nächster Coup gehandelt. In London kommt es zum Kräftemessen mit Mario Mandzukic. Ihre Einschätzung?
Jancker: Sie haben beide etwas Besonderes. Mandzukic arbeitet hart für das Team, kommt zu Chancen und erzielt genug Tore. Robert gefällt mir mit dem Gegner im Rücken unheimlich gut. Er sichert Bälle, ist jemand, mit dem man Fußball spielen kann. Der erste Kontakt, bevor er schießt, ist Wahnsinn. Da passieren ihm sehr wenig Fehler, wodurch er schnell in gute Schusspositionen kommt. Er gehört derzeit zu den Besten Europas.
SPOX: Vielleicht entscheidet einer der beiden das Spiel. Oder wird Mario Gomez zum Helden.
Jancker: Oder Reus, Ribery, Manuel Neuer. Auf beiden Seiten tummeln sich zahlreiche spielstarke Typen und herausragende Einzelkönner. Letztlich wird das Kollektiv entscheiden. Deshalb triumphiert Bayern - mit 3:1.
Carsten Jancker im Steckbrief