Papa hat sich verändert

Von Fatih Demireli
Vaterfigur Jupp Heynckes mit seinen "Söhnen", den Spielern
© Imago

Mit dem FC Bayern kehrt Jupp Heynckes an alte Wirkungsstätte zurück (20.30 Uhr im LIVE-TICKER). Bei Real Madrid holte er einst den Champions-League-Titel. Eine Trophäe, die er auch gerne in München holen würde. Dass er kurz vor dem Einzug ins Finale steht, ist ein großer Erfolg, zumal Heynckes keine leichte Zeit hinter sich hat. Dass sich der 66-Jährige durchgesetzt hat, ist vor allem einer Person zu verdanken: ihm selbst.

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Anatolij Tymoschtschuk ist ein angenehmer Zeitgenosse. Fast immer hat der Ukrainer ein Lächeln im Gesicht und lässt sich selten aus der Ruhe bringen. An diesem Tag war er allerdings angespannt. Was wird der Trainer wohl gleich sagen, dachte sich Tymoschtschuk.

Als zuletzt ein neuer Coach beim FC Bayern München an der Säbener Straße vorstellig wurde, war die Begegnung für Tymoschtschuk, der selbst ganz neu beim Klub war, äußerst unangenehm. "Louis van Gaal sagte mir bei der ersten Trainingseinheit, dass er mich nicht verpflichtet hat, und dass er so einen Spieler wie mich nicht braucht. Da hatte ich noch nicht ein Mal trainiert."

Nun also Heynckes. Sollte es wieder so kommen, dass dem 33-Jährigen die Lust auf die Saisonvorbereitung gleich am ersten Tag genommen wird?

Nein. Das erste Einzelgespräch mit dem Neuen nahm Tymoschtschuk, der unter van Gaal schon zwischenzeitlich mit dem FC Bayern abgeschossen hatte und nach Russland wechseln wollte, sofort die Anspannung: "Heynckes hat in unserem ersten Gespräch gesagt: 'Ich habe dich damals bei Zenit gesehen, ich habe dieses und jenes von dir gesehen, und ich denke, die Sechs ist deine stärkste Position.'"

Die richtige Ansprache

Es war nur ein Smalltalk, um gleich die Wärme zu empfinden, die der Ukrainer, aber auch alle anderen Spieler brauchen, um eine Basis zu schaffen, die das Zusammenleben erheblich erleichtert. Die Begegnung zwischen Heynckes und Tymoschtschuk ist nur eine von unzähligen Beispielen, die nicht nur den Trainer, sondern auch den Menschen Jupp Heynckes skizzieren.

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Als Ivica Olic im Sommer für sein Comeback schuftete, während seine Kollegen noch im Urlaub weilten, erreichte ihn ein Anruf des Trainers, der offiziell seinen Dienst noch gar nicht angetreten hatte: Genesungswünsche hier, die Hoffnungsbekundung, den Kroaten zum Trainingsauftakt begrüßen zu dürfen, da. "Das hat sehr gut getan", sagte Olic damals.

Als Franck Ribery vor gar nicht allzu langer Zeit für die Geburt seines Sohnes im Krankenhaus weilte, klingelte das Handy des Franzosen. Neben Glückwünschen ließ Heynckes Wahiba Ribery beste Grüße und Glückwünsche ausrichten. Training, Spiel, Fußball - davon war keine Rede. "Da dachte ich mir", so Ribery, "das ist ein unglaublicher Mensch." Heynckes sei für ihn wie ein "Papa".

Deswegen sagt Ribery auch: "Für Heynckes gebe ich 100 Prozent."

"Heynckes bestimmt alles alleine"

"Papa" hat in München auf Anhieb einen guten Draht gefunden. Nicht nur zu seinen Kindern, den Spielern, sondern auch zum Ältestenrat der Familie, den Verantwortlichen des Klubs. Es ist nicht Uli Hoeneß, bekanntlich ein enger Vertrauter des Trainers, sondern Karl-Heinz Rummenigge, der Heynckes immer wieder als "guten Freund des FC Bayern" bezeichnet.

Die Erwartungen in München an den Nachfolger von Louis van Gaal haben sich längst erfüllt - und eigentlich auch übertroffen. Das kann man - unabhängig davon ob Heynckes noch Titel holt oder nicht - zweifellos resümieren.

Selbstredend, dass sie beim FC Bayern den Meistertitel, den man nach eigenem Verständnis Borussia Dortmund nur ausgeliehen hatte, mit Heynckes gerne wieder nach München holen wollte. Dass die Schale erneut in Westfalen landet, ist ein Problem für den Rekordmeister, doch keines für Heynckes in Bezug auf seine Perspektive in München.

Dass andere Kriterien zählen, verrät Uli Hoeneß. "Er ist hauptverantwortlich für die Ruhe in der Mannschaft, für die Harmonie, für das taktische Verhalten. Jupp Heynckes bestimmt alles alleine." Für das Letztere kritisierte der Bayern-Präsident noch vor einem Jahr van Gaal. Die Kunst Heynckes' ist es, das Ganze anders zu verpacken - nämlich ganz FCB-like.

Lob von Hitzfeld

Einer, der es wissen muss, erklärt, warum Heynckes beim FC Bayern so gut ankommt, obwohl nicht ausgeschlossen ist, dass auch in dieser Saison kein Titel herausspringt: "Ich habe schon immer gesagt, dass Heynckes der richtige Mann für Bayern ist", sagt Ottmar Hitzfeld, der wie Heynckes mehr als einmal beim FC Bayern tätig war und ähnlich hoch geschätzt wird. "Er ist jemand, der den Verein innerlich vereint, der die Brücke darstellt zwischen Vorstand, Mannschaft und dem Umfeld."

Dabei hat es Heynckes seiner eigenen Weiterentwicklung zu verdanken, dass ihm dieser Drahtseilakt beim FC Bayern so gut gelingt. Der sture bis manchmal grantige Typ ist er längst nicht mehr. Papa, wie ihn Ribery nennt, hat sich verändert.

Selbst dem deutschen Vorzeige-Trainer schlechthin ist der "neue Heynckes" aufgefallen. "Er war früher viel angespannter als heute. Was man von den ganz großen Trainern lernen kann, ist, wie normal man bleiben kann trotz aller Erfolge. Das hat wirklich Vorbildcharakter", sagt Jürgen Klopp.

Nicht mehr existent ist der Heynckes, der mit feuerrotem Kopf auf ungemütliche Fragen noch ungemütlicher reagierte. Begegnungen mit Heynckes werden meist von seinem guten Humor und einem lockeren Umgang begleitet - ohne, dass er dabei seine Bestimmtheit und Autorität verliert.

"Totale Souveränität bewahrt"

Diese Beobachtung machte man beim FC Bayern schon bei seinem Kurz-Intermezzo 2009, als Heynckes im "Freundschaftsdienst" für fünf Spiele den entlassenen Jürgen Klinsmann ersetzte. Und genau dieser sehr gute Eindruck ließ Heynckes auch zur ersten Wahl werden, als man in München nach van Gaal einen neuen Trainer suchte. Heynckes war im Grunde sogar der einzige Kandidat.

"Jupp Heynckes hat sehr viele Trainerstationen hinter sich. Er ist mit 66 in einem Alter, in dem er alle Höhen und Tiefen erlebt hat. Er gehört zu diesem Trainer-Typus, der auch in Krisenzeiten totale Souveränität bewahrt", lobt Sportdirektor Christian Nerlinger.

Genau diese Art von Krise musste Heynckes zwischen Februar und März meistern. Während Borussia Dortmund in Serie gewann, patzte Bayern kontinuierlich. Zwangsläufig setzten in dieser Phase erste Gerüchte ein, dass der FC Bayern über die Ablösung Heynckes' zum Saisonende nachdenken würde.

Von Gedankenspielen wurde berichtet, wonach FCB-Boss Rummenigge eine Lösung mit Borussia Mönchengladbachs Lucien Favre favorisiere. Auch Hannovers Mirko Slomka wurde gehandelt. Der FC Bayern tat die Berichterstattung des Boulevards als "Gerüchte-Journalismus" ab und gab eine ungewohnt scharfe Pressemitteilung heraus.

Der Vergleich mit Wulff

Der Ton der Verlautbarung war nicht grundlos, wie Präsident Hoeneß später erklärte: "Wenn ich sehe, was über Monate über Wulff geschrieben wurde, mussten wir reagieren. Wehret den Anfängen!"

Der (Ex-)Bundespräsident und der Trainer des FC Bayern - damals in ihrer Situation gar nicht so unterschiedlich. Denn die Gerüchte um die Ablösung veranlassten dazu, fortan jedes Heynckes-Wort, jede Bewegung des offenbar angeknockten Trainers zu beobachten und genau zu protokollieren.

Und genau in dieser Phase war der Wandel des Jupp Heynckes deutlicher und imposanter denn je zu erkennen. "Ich muss dem Trainer ein Riesen-Kompliment machen, wie souverän er den Druck und diese schwierige Phase gemeistert hat", lobt Sportdirektor Nerlinger.

"Der Trainerjob ist schon stressig. Aber es ist immer eine Frage, wie man mit Druck umgeht. Ich habe mich nie von Druck verrückt machen lassen. Wir arbeiten immer noch im Sport", sagt Heynckes.

Die erste Pressekonferenz nach Aufkommen der Gerüchte um eine Ablösung war bemerkenswert. Heynckes war die Ruhe selbst, wirkte keineswegs dünnhäutig und nahm nicht medienwirksam irgendwelche Spieler in die Pflicht, um selbst aus der Schusslinie zu geraten. Heynckes war genauso, wie er auf die Außenstehenden zu erfolgreichen Phasen wirkte.

"Ich bin der Trainer, ich entscheide"

"Ich habe aus Niederlagen immer mehr Motivation gezogen als aus Siegen. Dann musst du Charakter zeigen und vorneweg gehen", sagt Heynckes. Die Handhabe des Trainers fruchtete und kam vor allem innerhalb der Mannschaft sehr gut an. "Der Trainer hat die Ruhe bewahrt, die wir gebraucht haben", lobt Mario Gomez.

Heynckes schreckte auch nicht davor zurück, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Arjen Robben landete auf der Bank, weil ihn Heynckes nicht so frisch sah, wie sich der Niederländer selbst einschätzte. Beim 0:1 in Basel nahm er "Sohn" Ribery früh heraus. Der verweigerte Handschlag war für Heynckes schnell erledigt und hat an der Autorität des Trainers nicht genagt.

Als im Hinspiel gegen Real Madrid Bastian Schweinsteiger nach 60 Minuten Platz für Thomas Müller machen musste, war der Bayern-Leader nicht einverstanden und ging demonstrativ genervt vom Platz. Heynckes lässt sich davon nicht beeindrucken und sagt: "Ich bin der Trainer, ich entscheide."

Auch diesen vermeintlichen Brandherd hat Heynckes sofort gelöscht, indem er im nächsten Atemzug Schweinsteiger wieder stärkte.

Der Plan über 2013 hinaus

Am Mittwoch kehrt Heynckes an alte Wirkungsstätte zurück. Bei Real Madrid genießt er immer noch ein hohes Ansehen, zumal er den Königlichen zum ersten Champions-League-Titel nach 30-jähriger Abstinenz verhalf, aber 1998 dennoch entlassen wurde, weil man national erheblich erfolgloser war.

Real-Coach Jose Mourinho sprach ungefragt von einem "großartigen Trainer", als es kürzlich um den FC Bayern ging, dieser aber sofort auf Heynckes zu sprechen kam. "Der FC Bayern spielt unter ihm groß auf."

Die aktuelle Stimmung lässt keine andere Vermutung zu, dass dies auch in der kommenden Saison so bleibt. Zwar hat der FC Bayern in den letzten Jahren den Hang dazu entwickelt, schnell auf andere Ideen zu kommen und zunächst funktionierende Zusammenarbeiten schneller zu beenden, als gedacht.

Aber Heynckes - so sieht derzeit der Plan aus - ist auch der Trainer über 2013, dem aktuell letzten Vertragsjahr, hinaus.

Denn Heynckes ist nicht nur erfolgreich, beliebt und angesehen, sondern auch billig, wie Uli Hoeneß verrät: "Er hat einen Flipchart und fünf Eddingstifte. Da kostet einer 2,50 Euro. Und da malt er auf die Tafel die Aufstellung des Gegners und sagt ein paar Takte dazu. Mit Heynckes gewinnen wir Spiele für 12,50 Euro, und bei Klinsmann haben wir viel Geld ausgegeben und wenig Erfolg gehabt."

Jupp Heynckes im Profil

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