Trainer Lucien Favre ist dabei erfrischend realistisch. "Es wird ein extrem schwieriges Jahr und unmöglich, das Niveau zu halten", gab er schon vor Saisonstart zu Protokoll.
Finanziell kann die Hertha jedenfalls trotz Europa-League-Einzug keine großen Sprünge machen, im Gegenteil: Die Ausgaben für den Lizenzspielerbereich wurden noch mal um 5,6 Millionen Euro gedrückt, dazu muss man laut DFL-Vorgaben einen Transferüberschuss von 5 Millionen Euro erwirtschaften - was durch den Simunic-Verkauf geregelt sein dürfte.
Ein konkretes Saisonziel gibt es aufgrund diverser Unwägbarkeiten also vorerst nicht - die Hertha spielt einfach mal drauf los. Das hat in der Vorsaison ja auch prima geklappt.
Das ist neu
Als sportlicher Leiter schwingt nun Michael Preetz das Zepter und wird das aller Voraussicht nach etwas dezenter als Hoeneß tun. Preetz sieht sich selbst als "Teamplayer" und soll dementsprechend eng mit Favre zusammenarbeiten.
Neu im Kader ist etwas überraschend Artur Wichniarek, der zwischen 2003 und 2006 bei seinem ersten Hertha-Auftritt enttäuschte (4 Tore in 44 Spielen). Er muss im Sturmzentrum gleich zwei prominente Abgänge ersetzten, hat sich aber viel vorgenommen. "Ich will allen zeigen, dass ich es viel besser kann", sagt der Ex-Bielefelder.
Ansonsten muss die Hertha mit wenig Geld viel Schlaues anstellen, auch wenn Favre pessimistisch ist: "Es ist extrem schwierig, ohne Geld Spieler zu finden." Gefunden haben sich bislang Christoph Janker und Nemanja Pejcinovic, beides "polyvalente Spieler" (Favre), die in der Abwehr erstmal als ambitionierte Alternativen zur Startformation gelten. Mit dem Schweden Rasmus Bengtsson wurde zudem ein weiterer Abwehrmann verpflichtet. (Der Kader von Hertha BSC im Überblick).
Und dann gibt es noch die neue Abteilung Attacke aus Herthas Jugendinternat: Shervin Radjabali-Fardi, Fanol Perdedaj und Lennart Hartmann sollen an die Profis herangeführt werden. Vor allem Hartmann ist nahe an der ersten Mannschaft dran.
Die Taktik
Drei Stützen sind weg, das System bleibt: Favre setzt weiter auf ein 4-4-2 bzw. 4-4-1-1 mit flachem Mittelfeld und Raffael auf der vorgezogenen Position mit allen Freiheiten. Probleme gab es in der Vorbereitung im Defensivbereich vor allem bei hohen Bällen.
Nach etlichen Experimenten in der Innenverteidigung - sogar mit Fabian Lustenberger - läuft es neben dem neuen Kapitän Arne Friedrich auf einen Zweikampf zwischen Steve van Bergen und Pejcinovic hinaus, wobei der Schweizer derzeit noch die Nase vorne hat.
Das Sorgenkind bleiben die Außenverteidigerpositionen. Rechts hat sich aber mittlerweile Lukasz Piszczek als Notlösung etabliert, links bekommt Marc Stein gesunden Druck von Neuzugang Janker. Als Alternativ-Systeme sind ein 3-5-2 und ein 4-3-3 mit Raffael links und Amine Chermiti oder Valeri Domowschijski rechts im Angriff bereits erprobt.
Auffällig war in der vergangenen Saison vor allem die Masse an engen Spielen, die die Hertha mit einer Mischung aus Abgebrühtheit und Glück gewann. Nun ist der Truppe ein gutes Stück Erfahrung weggebrochen. Favre fordert deshalb: "Wir müssen mehr Tore erzielen und somit mehr Chancen kreieren."
Der Spieler im Fokus
Raffael. Nach eineinhalb Jahren Schonfrist muss der 24-jährige Brasilianer konstanter werden und soll zum Führungsspieler, zu einem neuen (wenn auch anderen) Marcelinho reifen. "Jetzt müssen sich neue Charaktere bilden", forderte Friedrich bereits und nahm dabei Raffael mit auf.
Trainer Favre, der seit 2004 seinen Weg begleitet, stößt ins selbe Horn: "Raffa kann diese Saison einen großen Sprung machen - und er muss das auch. Er muss mehr wagen, mehr probieren, mehr gefährliche Situationen erzeugen. Bis jetzt hat er das zu wenig gemacht. Er muss die Bremse lösen."
Die Qualitäten des Brasilianers sind indes unumstritten. Der Linksfuß kann alles am Ball, ist dabei äußerst schnell und sich auch nie zu schade, die Mitspieler einzusetzen. Dazu kommt eine ihm zuträgliche Bescheidenheit. "Ich weiß, dass ich noch viel arbeiten muss", so Raffaels Kommentar vor dem Saisonstart.
Die Prognose
Wenn sich schon Preetz und Favre schwer tun, das Leistungsvermögen der Hertha richtig zu bewerten, ist eine objektive Einschätzung kaum möglich.
Klar ist, dass die Hertha ein echtes Sahne-Jahr mit vielen engen Siegen hinter sich hat, das so unmöglich zu wiederholen sein wird.
Sollte Wichniarek jedoch zu alter Treffsicherheit zurückfinden und Spieler wie Raffael, Cicero oder Gojko Kacar in ihrer Entwicklung weiter voran kommen, ist ein Europa-League-Platz drin. Realistischer ist jedoch eine Art Übergangsjahr zwischen Position acht und elf.