Dieser Artikel wurde im Januar 2023 veröffentlicht
Herr Pienta, Sie sind mittlerweile 78 Jahre alt und scouten immer noch für den FC Bayern. Wie lange wollen Sie das denn noch machen?
Jan Pienta: Bis es mit mir vorbei ist. Ich habe einen unbefristeten Vertrag. Ohne Fußball geht es nicht. Zum Glück habe ich eine Frau, die das toleriert. Neulich hat mich bei Bayern jemand aus der Buchhaltung gefragt: "Kannst du das überhaupt noch mit 78?" Da habe ich erzählt, dass ich jeden zweiten Tag zehn Kilometer jogge.
Wie sieht Ihr Scouting-Alltag aus?
Pienta: Aktuell scoute ich für die U15. Das ist schwierig, weil in dieser Altersklasse die meisten Talente schon abgegrast sind. Ich bin dafür zuständig, die letzten Nadeln im Heuhaufen zu finden. Meistens schaue ich mir zwei, drei Spiele pro Wochenende an. Aber nur im Großraum München, weiter fahre ich nicht. Wir haben mittlerweile über 30 Scouts. Die sollen durch die Gegend fahren und sich erst einmal beweisen. Wenn bei anderen Scouts Uneinigkeit über einen Spieler herrscht, werde ich nach meiner Meinung gefragt. Ich irre mich auch manchmal, aber nicht so oft.
Werden Sie für spezielle Spiele eingeteilt?
Pienta: Nein, das entscheide ich eigenständig. Ich gehe das ganz systematisch an. Am Anfang jeder Saison warte ich zwei, drei Spieltage ab. Dann gehe ich zu den Mannschaften ganz oben in der Tabelle. Die jeweiligen Trainer frage ich immer, ob bei den bisherigen Gegnern gute Talente dabei waren.
Wie viele von Ihnen empfohlene Spieler landen im Schnitt pro Jahr beim FC Bayern?
Pienta: Manchmal gar keiner, manchmal ein paar auf einmal. Letztes Jahr habe ich zwei beim SV Waldeck Obermenzing entdeckt: Nicklas Böhnke und Fabio Dill, die spielen jetzt beide bei der U16. Meine letzte Entdeckung, die es in den Profifußball geschafft hat, ist Jamie Lawrence. Mit seiner Körpergröße von zwei Metern ist er mir bei einem Spiel in Heimstetten direkt aufgefallen. Jamie war bei Bayern mal im Profikader, aktuell spielt er für Magdeburg.
Sie stammen aus Ostwestfalen. Wie kamen Sie 1986 zum FC Bayern?
Pienta: Das ist eine kuriose Geschichte. In der Saison 1980/81 war ich Hannes Baldaufs Co-Trainer beim SC Herford in der 2. Bundesliga. Zu dieser Zeit hat ein Kumpel von mir für den VfL Bochum gespielt. Bei einem Spiel gegen Bayern habe ich ihn besucht und in den Katakomben Uli Hoeneß getroffen. Ich habe ihn angesprochen, ihm gesagt, dass ich Bayern-Fan bin, und um ein Trikot gebeten. Er hat mir eines versprochen - sofern ich mal nach München komme.
Wie ging es weiter?
Pienta: Nach Herfords Abstieg ist Baldauf zum FC Augsburg gewechselt, ich bin mitgekommen. Kurz darauf hat der FCA aber finanzielle Probleme bekommen. Sie wollten mich nicht mehr bezahlen, also stand ich in Augsburg auf der Straße. Deshalb habe ich mir einen Job beim Finanzamt in München gesucht. Über Kontakte habe ich einmal ein Ticket für ein Bundesligaspiel des FC Bayern bekommen. Dort habe ich zufällig wieder Hoeneß getroffen. Ich habe ihn darauf angesprochen, dass er mir damals in Bochum ein Trikot versprochen hat. Sofort ist er in die Kabine gegangen, hat ein Trikot geholt und mir gegeben. Die Gelegenheit habe ich genutzt und ihn gefragt, ob er zufällig einen Jugendtrainer sucht. Hoeneß meinte, dass ich eine Bewerbung an Karl Hopfner (damals Geschäftsführer, Anm. d. Red.) schicken soll. Ich dachte, dass ich eh keine Chance habe. Aber 14 Tage später rief Hopfner an und hat mir einen Job als A-Jugend-Trainer angeboten. So fing alles an.
Ihren Job als Finanzbeamter haben Sie daraufhin aufgegeben?
Pienta: Das wollten die Bayern, aber ich nicht. Das Risiko war mir zu groß. Ich hatte einen sicheren Job und eine Werkdienstwohnung. Am Ende hat Hopfner zugestimmt, dass ich es nebenberuflich mache. So habe ich es bis zu meiner Pensionierung 2009 durchgezogen.
Wie haben sich Ihre Aufgabenfelder im Laufe der Zeit geändert?
Pienta: Bis 1990 habe ich die jüngere A-Jugend trainiert. Anschließend bin ich hauptsächlich zwischen der C- und D-Jugend hin- und hergesprungen. Dort habe ich Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Thomas Müller und so weiter entdeckt. Das waren die goldenen Zeiten. Irgendwann habe ich mich nur noch auf das Scouting konzentriert.
Sie waren anfangs also gleichzeitig Trainer und Scout?
Pienta: Ja. Im Nachwuchs-Scouting waren wir lange Zeit ein Trio: Nachwuchskoordinator Hermann Hummels, Heiko Vogel und ich.
Sie haben Lahm, Schweinsteiger und Müller entdeckt: Waren Sie sich von Anfang an sicher, dass die drei solche Karrieren machen?
Pienta: Ich wusste, dass sie durch die Decke gehen. Bei Müller und Schweinsteiger war diese Prognose schwierig, bei Lahm nicht. Als ich ihn das erste Mal mit elf, zwölf Jahren gesehen habe, hat er schon wie ein Erwachsener gespielt.
Waren Ihre Kollegen Hummels und Vogel genauso begeistert wie Sie?
Pienta: Ich will jetzt keine Namen nennen, aber andere im Klub waren nicht so überzeugt wie ich. Sie hielten Schweinsteiger für zu langsam, Lahm für zu klein und Müller wollten sie auch nicht. "Der kann nichts", hat es bei Müller geheißen. Ich habe nur geantwortet: "Wartet mal ab!" Als sie Schweinsteiger wegschicken wollten, habe ich gedroht: "Dann gehe ich zur Klubführung! Den nehmen wir!" Anders als damals werden heute alle Einschätzungen dokumentiert. Man kann genau nachlesen, wie jeder Scout jeden Spieler beurteilt. Früher wurde im Nachhinein gerne die Wahrheit verdreht.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie ein interessantes Talent entdeckt haben?
Pienta: Als erstes frage ich den Trainer nach den Kontaktdaten der Eltern. Es kommt auch mal vor, dass einer sagt: "Hau' ab, was willst du hier?" Aber die meisten sind freundlich. Dann spreche ich immer die Mütter an, das ist der schwierige Teil. Die Väter sind leicht herumzukriegen.
Bei welcher Mutter war es besonders schwierig?
Pienta: Ganz schwer zu überzeugen war Frau Müller. Sie hat erzählt, dass Thomas ein Jahr zuvor nach einem Probetraining weggeschickt wurde. Außerdem habe sie eh keine Lust auf die ganze Fahrerei. Ich wusste, dass ihr Mann bei BMW in München arbeitet. Also habe ich vorgeschlagen, dass er Thomas zum Training mitnehmen kann. Und wenn es mal nicht passt, darf er daheim in Pähl trainieren. Ich habe nicht locker gelassen, irgendwann hat sie eingelenkt. Thomas selbst war von Anfang an Feuer und Flamme.
Was hat Ihnen an ihm so imponiert?
Pienta: Seine Unorthodoxheit. Er weiß auf dem Platz nicht, was er im nächsten Moment machen wird. Und seine Laufstärke. Außerdem hatte er keine Angst, war nie aufgeregt. Im ersten Spiel, das ich von ihm gesehen habe, hat er sechs oder sieben Tore geschossen.
Wie lief es bei Lahm ab?
Pienta: Frau Lahm war mit einem Wechsel gleich einverstanden, aber Philipp selbst hatte keine Lust. "Nö, ich will bei meinen Freunden bleiben", hat er gesagt. Dann habe ich ihn gefragt, ob er mal Balljunge im Olympiastadion machen will. Seine Familie wohnt ja in der Dachauer Straße, ganz in der Nähe vom Stadion. Das wollte er und als wir im Tunnel standen, habe ich zu ihm gesagt: "Schau, hier kannst du später auch mal als Spieler stehen." Nach 14 Tagen rief Frau Lahm an und meinte, dass er es sich anders überlegt hat und mittrainieren will. Ich habe ihn zu einem Turnier nach Augsburg mitgenommen. Da wollte er aber nicht spielen, sondern sich erstmal nur alles anschauen.
Haben Sie noch Kontakt mit Eltern Ihrer Entdeckungen?
Pienta: Mit Lahms und Müllers habe ich noch guten Kontakt. Es kommt auch regelmäßig vor, dass mich jemand anspricht: - "Grüß Gott, Herr Pienta! Danke, dass sie meinen Sohn damals zu Bayern geholt haben." - und ich gar nicht mehr weiß, wer das eigentlich ist. Neulich ist mir das bei den Eltern von Diego Contento passiert.
Lahm, Schweinsteiger und Müller haben Sie trotz Widerstands zum FC Bayern geholt. Aber gab es auch spätere Profis, die sie vergeblich empfohlen haben?
Pienta: Einmal habe ich einen bei Karlsruhe entdeckt, der viel später doch noch bei uns gelandet ist. Der hat so lange Haare gehabt ...
Michael Sternkopf?
Pienta: Genau! Als er noch Jugendspieler war, habe ich gesagt: "Den müssen wir holen!" Man hat aber nicht auf mich gehört. Als er schon Profi war, hat Bayern viel Geld für ihn bezahlt (1990, umgerechnet 1,7 Millionen Euro, Anm. d. Red.). Hoeneß hat damals gemeckert, warum wir den nicht früher entdeckt haben. Dann habe ich ihm gesagt, dass ich ihn empfohlen habe und das sogar belegen kann: Ich hatte noch eine Abmahnung vom Verband, weil ich ihn bei einem Spiel im Kabinengang angesprochen hatte. Ich weiß noch genau, wie ich damals bei Hopfner strammstehen musste. Er meinte: "Ich verwarne Sie, gehen Sie nie wieder in einen fremden Kabinengang." Und dann: "Das musste ich sagen, aber eigentlich will ich sagen: 'Das haben Sie gut gemacht!'"
Gibt es auch spätere Profis, die Sie unbedingt haben wollten, aber nicht bekommen haben?
Pienta: Bei vielen Talenten gab es das Problem, dass die Eltern mit Sechzig infiziert waren. Bei denen habe ich mir die Zähne ausgebissen. Philipp Steinhart, die Bender-Zwillinge und Benny Lauth wollte ich unbedingt holen. Aber ich habe ihre Mütter nicht herumgekriegt.
Wie ist Ihr Draht zu 1860?
Pienta: Am Anfang war alles gut. Aber irgendwann fingen Eltern an, mich anzupöbeln. "Rote Sau" haben sie gerufen oder mir vorgehalten, dass ich bei Bayern angeblich so viel verdienen würde. Einmal habe ich sogar ein Platzverbot bei Sechzig bekommen.
Wie kam das?
Pienta: Jürgen Jung war bei uns Scouting-Leiter der Jugendabteilung. Ich hatte ein tolles Verhältnis zu ihm - bis er entlassen wurde. Danach ist er zu Sechzig gegangen und hat mir Platzverbot erteilt. Mittlerweile hat sich das aber alles beruhigt.
Waren Sie eigentlich auch mal international unterwegs?
Pienta: 1998 bei einem Jugendturnier in Österreich mit Mannschaften aus allen Herren Länder. Wolfgang Dremmler hat damals als Chefscout der Profis die Internationalisierung des Scoutings vorangetrieben. Ich glaube, er wollte mich testen. Nach dem Turnier hat er mich gefragt, wer der beste Spieler war. "Landon Donovan", habe ich gesagt. Er ist er zum Schrank gegangen, hat Donovans Akte geholt und gesagt: Das haben wir schon vorher gewusst. Donovan wurde zwar weiter beobachtet, aber für eine Verpflichtung hat es nicht gereicht. Irgendwann später ist er doch noch gekommen. Ein anderes Mal war ich bei einem Turnier in Nordirland. Da ist mir Thiago Silva von Fluminense aufgefallen. Ich habe ihm erzählt, dass wir mit Zé Roberto schon einen Brasilianer haben. Er hat sich gefreut, aber ein Transfer kam nicht zustande.
Wir haben noch gar nicht über Hermann Gerland gesprochen. Wenn es um die Karrieren von Schweinsteiger, Lahm oder Müller geht, wird meist er als großer Förderer dargestellt. Ihr Name fällt dagegen kaum. Stört Sie das?
Pienta: Wir Ostwestfalen halten zusammen. Ich kenne Hermann noch aus der Heimat: Als ich schon Co-Trainer bei Herford war, hat er noch beim VfL Bochum gespielt. Herrmann erwähnt mich bei jeder Ehrung. Louis van Gaal hat ihn einmal gefragt, wer ich eigentlich bin. "Der hat alle unsere Granaten geholt", hat Gerland gesagt und alle aufgezählt. Dann gibt es noch eine Anekdote vom Champions-League-Finale 2013 gegen Dortmund in London.
Und zwar?
Pienta: Zwei Tage vor dem Spiel habe ich Hermann erzählt, dass ich kein Ticket bekommen habe. Da hat er mich am Arm gepackt, in Matthias Sammers Büro gezogen und gesagt: "Das ist Jan Pienta, der hat unsere Granaten geholt. Der wird nicht zum Champions-League-Finale eingeladen?" Sammer hat ein bisschen rumgedruckst, aber Hermann ist stur geblieben: "Dem werden Tickets und ein Hotel gezahlt und seiner Frau auch!" Am nächsten Tag war alles geregelt.
Wie war Ihr Kontakt zu Uli Hoeneß, der Ihren Wechsel nach München erst ermöglicht hat?
Pienta: Wenn wir uns gesehen haben, haben wir uns immer unterhalten. Es gibt eine nette Anekdote von meiner Zeit als A-Jugend-Trainer. Wir sollten damals nur mit Adidas-Schuhen herumlaufen, aber der Zeugwart wollte mir keine geben. Also bin ich provokant mit Puma-Schuhen gekommen. Uli hat das zufällig gesehen und gefragt, ob ich noch ganz dicht sei. Ich habe gesagt, dass mir der Zeugwart keine Adidas-Schuhe gibt. Daraufhin ist er zu ihm gestürmt und hat mir welche besorgt. Uli ist ein herzensguter Mensch. Als meine Mutter 1994 gestorben ist, hatte ich gerade kein Fahrzeug. Ich bin zu ihm gegangen, habe ihm das erzählt und gefragt, ob ich mir ein Auto leihen kann. Innerhalb weniger Minuten war das geregelt.
Mittlerweile geht es beim FC Bayern nicht mehr so familiär zu, eingangs haben Sie von 30 Scouts allein im Nachwuchsbereich berichtet. Wann hat diese Entwicklung begonnen?
Pienta: Das ist nach und nach passiert. So richtig los ging es mit der Eröffnung des Campus' und der Ankunft von Jochen Sauer (2017, Leiter der Nachwuchsabteilung, Anm. d. Red.). Da wurde die Sache richtig aufgebläht. Es ist ein Wahnsinn, was da mittlerweile für ein Aufwand dahintersteckt. Ich überblicke das alles gar nicht mehr. Manche Kollegen haben keine Ahnung, wer ich bin. Und dann ist da noch eine Sache: 37 Jahre lang hat mir der Verein immer eine Dauerkarte gestellt. Seit diesem Jahr gibt es das nicht mehr. Jan-Christian Dreesen (Finanz-Vorstand, Anm. d. Red.) hat veranlasst, dass nebenberuflich tätige Mitarbeiter keine Tickets mehr bekommen. Das ist schade.