"Ich denke über mich, die Situation, über alles nach", sagte Julian Nagelsmann nach der 0:1-Niederlage gegen den FC Augsburg. Eine Niederlage, die den FC Bayern München endgültig in die Krise stürzte. Zumindest mal in eine Ergebniskrise.
"Wenn ich die Statistik sehe, hätten wir gewinnen müssen", analysierte der Trainer: "Nach dem 1:0 war es sehr schwer, wir hätten mit simplen Mitteln den Raum hinter der Kette bespielen können, haben aber sehr viele Überzahlsituationen hergeschenkt."
Auch die Bosse des FC Bayern sind unzufrieden mit der jüngsten Entwicklung. Diverse Medien berichteten bereits, dass Nagelsmanns Stuhl bald wackeln könnte, wenn es nach der Länderspielpause nicht besser wird. Laut der Sport Bild hat die Führungsetage drei konkrete Probleme ausgemacht.
SPOX und GOAL machen den Check und überprüfen, inwiefern die Argumente den Kern der aktuellen Ergebniskrise tatsächlich treffen.
Probleme des FC Bayern: Was wurde geschrieben?
- Chancenverwertung: Das erste große Problem sollen Oliver Kahn und Co. bei den Spielern sehen. Demnach würden die ihre Torchancen nicht ausreichend nutzen und sie auch nicht konsequent genug zu Ende spielen.
- Spieler als Freiwild: Weiterhin steht auf der Problemliste die harte Gangart einiger Gegenspieler. Angeblich soll man sich beim FC Bayern darüber beschweren, dass die eigenen Spieler zu wenig Schutz von den Schiedsrichtern bekommen würden.
- Ballverluste: Abschließend würden zu viele unnötige Ballverluste den Spielrhythmus zerstören. Das führe dazu, dass das Team weniger dominant auftrete. Auf der Liste der drei größten Mängel soll dieses Problem das einzige sein, für das die Bosse den Trainer verantwortlich machen.
Doch was ist dran? Können die Statistiken die vermeintliche Argumentation der Bosse stützen?
FC Bayern, Analyse: Chancenverwertung als großes Problem?
Weil sich das Schiedsrichter-Argument nur schwer widerlegen oder bestätigen lässt und daraus für gewöhnlich endlose Diskussionskreise entstehen, die zu nichts führen, steht in dieser Analyse der taktische Teil im Mittelpunkt.
Fakt ist: Der FC Bayern kommt in dieser Saison 23-mal pro Spiel zum Abschluss, was im Vergleich zu vergangenen Saison eine deutliche Steigerung ist.
Gleichzeitig hat sich die durchschnittliche Distanz zum Tor um einen Meter vergrößert, weil die Münchner 2,6-mal mehr pro Spiel von außerhalb des Sechzehners abschließen. Zwar ist der Expected-Goals-Wert laut den Daten von StatsBomb nahezu gleichgeblieben, doch die Bayern erreichen diesen eben durch einen Austausch: Quantität statt Qualität.
Statistik pro Spiel | Saison 2021/22 | Saison 2022/23 |
Abschlüsse | 19,8 | 23 |
Durchschnittliche Distanz | 14,5 Meter | 15,5 Meter |
Außerhalb vom Sechzehner (anteilig an Gesamtzahl) | 6,1 (30 Prozent) | 8,7 (38 Prozent) |
Expected Goals (xG) | 2,59 | 2,53 |
xG pro Schuss | 0,13 | 0,11 |
Das bestätigt auch die erste These: Bayern nutzt einerseits die Chancen nicht, spielt sie andererseits aber auch nicht ausreichend gut aus. In dieser Saison kommen 38 Prozent der Abschlüsse von außerhalb des Sechzehners, in der letzten waren es noch 30 Prozent. Das könnte darauf hinweisen, dass die Bayern es nicht mehr oft genug schaffen, aus guten Positionen zu schießen. Auch wenn sich die Summe an Expected Goals bei vielen Abschlüssen summiert, so ist die Wahrscheinlichkeit bei weniger Qualität größer, dass die tatsächliche Anzahl an Toren den xG-Wert wie zuletzt unterschreitet.
Insofern ist es womöglich nicht nur die Chancenverwertung, die nicht passt. Wenn Nagelsmann beispielsweise kritisiert, dass viele Überzahlsituationen nicht gut genug zu Ende gespielt werden, dann meint er einerseits Szenen, die aufgrund des fehlenden Abschlusses nicht in den Statistiken auftauchen. Andererseits meint er aber auch Situationen, in denen die Spieler zu überhastet aufs Tor schießen, statt noch einen Pass hinter die gegnerische Kette zu suchen.
FC Bayern, Analyse: Kosten die vielen Ballverluste Siege?
Die zweite Baustelle sollen die vielen unnötigen Ballverluste sein. Aber was sagen die Daten dazu? Tatsächlich verlieren die Münchner den Ball aktuell rund zweimal häufiger als in der vergangenen Saison. Vor allem unsaubere Ballkontakte sind ein Problem. 19,3-mal kommt der Gegner pro Spiel in Ballbesitz, weil ein Münchner das Spielgerät nicht vernünftig kontrollieren kann.
Schuld daran könnte etwas sein, was sich kaum mit Daten erfassen lässt: Die Bayern spielen aktuell viele ungenaue Pässe, die nicht immer als Fehlpass in der Statistik auftauchen. Weil einige Zuspiele unpräzise sind, wird das Tempo im Angriff verschleppt und der ballführende Spieler gerät unter Druck.
Gleichzeitig lässt sich aus den Statistiken nicht ablesen, dass es signifikant mehr Ballverluste wären als in der Vorsaison. Auch die Passquote ist in allen Bereichen um wenige Prozentpunkte besser geworden. Was sogar ein Stück weit gegen die These spricht, ist die Tatsache, dass die Zuspiele der Münchner deutlich seltener vom Gegner abgefangen oder geblockt werden.
Statistik pro Spiel | Saison 2021/22 | Saison 2022/23 |
Ballbesitz | 64,8 Prozent | 69 Prozent |
Ballverluste | 27,5 | 29,4 |
durch unsauberen Kontakt | 17,6 | 19,3 |
durch Gegenspieler | 9,9 | 10,1 |
Pässe | 699,6 | 671,1 |
Passquote | 85,1 Prozent | 86 Prozent |
Pässe vom Gegner abgefangen | 15,4 | 11,6 |
Pässe geblockt | 12 | 9,6 |
Dribblings | 22,2 (57,6 Prozent) | 19,9 (51,1 Prozent) |
Man könnte also sogar die Gegenthese aufstellen, dass das Passspiel der Bayern besser geworden ist. Dafür hat die Qualität bei den Dribblings abgenommen. Pro Spiel gewinnt der FCB rund sechs Prozent weniger Duelle. Gut möglich, dass sich die Bayern also zu oft festdribbeln. Zumindest spielen sie insgesamt weniger Pässe, obwohl sie deutlich mehr Ballbesitz haben.
Eine weitere gute Begründung dafür könnte wiederum sein, dass das Team von Nagelsmann ruhiger aufbaut. 55,6 Pässe pro Spiel haben einen vertikalen Raumgewinn von knapp zehn Metern. Der Wert ist trotz mehr Ballbesitzphasen nahezu unverändert.
Die Frage ist also: Spielen die Bayern zu zurückhaltend? Oder ist es eine hinzugewonnene Qualität, dass sie ein Spiel ruhiger gestalten können? Mit Blick auf die teils hektischen Phasen der letzten Saison könnte man das nämlich sehr gut argumentieren. Andererseits gibt es in dieser Spielzeit Momente, in denen ein Bayern-Spieler den Ball zu lange an den Füßen hat.
FC Bayern, Analyse: Weniger dominant?
Vor allem die Schlussfolgerung, dass der FC Bayern wegen seiner Ballverluste weniger dominant sei, lässt sich daher aber kaum durch Statistiken bestätigen. Die Elf auf dem Rasen hat deutlich mehr Ballbesitz, kommt häufiger ins letzte Drittel und in den gegnerischen Strafraum. Vor allem aber haben sich die Münchner defensiv stabilisiert.
Das zeigen nicht nur die bisher erst sechs Gegentore, sondern auch die Qualität der gegnerischen Abschlüsse. Bayern kassiert verglichen mit der vorherigen Spielzeit einen Schuss weniger pro Spiel. Der Gegner ist dabei durchschnittlich 16,5 Meter entfernt von Manuel Neuers Tor. Mit 0,91 erwartbaren Gegentoren pro Spiel sind die Bayern aktuell ebenfalls gut unterwegs - vor allem mit Blick auf die durchwachsenen Leistungen zuletzt.
Statistik pro Spiel | Saison 2021/22 | Saison 2022/23 |
Ballkontakte | 819,5 | 793,6 |
Ballkontakte im Angriffsdrittel | 229,7 | 242,7 |
Ballkontakte im gegnerischen Strafraum | 41,1 | 44,1 |
Abschlüsse Gegner | 9,3 | 8,4 |
durchschnittliche Distanz | 15,3 Meter | 16,5 Meter |
Erwartbare Gegentore | 1,09 | 0,91 |
Gegentore | 1,08 | 0,85 |
Und so bleibt das Fazit, dass sich die Probleme der Bayern derzeit kaum an Daten festmachen lassen - oder eben doch. Denn die banale Wahrheit ist, dass die Münchner das Tor aktuell zu selten treffen. Dominanz bedeutet auch, dass ein Team in der Lage ist, die hohen Spielanteile in Führungen umzumünzen. Das gelingt den Bayern aus diversen Gründen nicht.
Individuelle Fehler, fehlende Präzision, teilweise unerklärliche Phasen, in denen den Bayern so gut wie nichts gelungen ist - das sind die Baustellen, die Julian Nagelsmann angehen muss. Dass die Bayern es aber grundsätzlich können und dass die letzten Wochen nicht so schlecht waren, wie sie aufgrund der Ergebnisse teilweise bewertet werden, zeigen die Daten aber zu Genüge.
Und vielleicht würde es ja schon helfen, wenn sie etwas seltener im Abseits stehen würden. 3,9-mal pro Spiel sind im Vergleich zum Vorjahr (2,2) fast eine Verdopplung. Der Mané-Effekt?
FC Bayern: Julian Nagelsmann sogar auf gutem Weg?
Kurios wird es zudem, wenn man die bisherigen Bundesliga-Spiele mit der vergangenen Saison vergleicht. Dann zeigt sich nämlich, dass Nagelsmann zwei Punkte mehr geholt hat als gegen dieselben Gegner im Debüt-Jahr - bei deutlich besserem Torverhältnis. Hat der 35-Jährige also einfach nur seine Angstgegner schon hinter sich und alles ist gar nicht so wild?
Ganz so einfach ist es wohl nicht. Aber Teil der Wahrheit ist wohl auch, dass es Teams gibt, gegen die sich die Bayern traditionell schwertun. Es fällt bei der aktuellen Ergebnislage schwer, den Münchnern eine positive Entwicklung zu unterstellen. Der rein statistische Vergleich zeigt aber, dass es diese gibt - vor allem in der Defensive.
Die große Frage für die kommenden Wochen wird sein, ob die Bayern ihre Form in der Offensive zurückfinden können. Bei dem Kader und der Anzahl an Chancen sollte das auch ohne Robert Lewandowski möglich sein - und mit Julian Nagelsmann.
Gegner | Saison 2021/22 | Saison 2022/23 |
Frankfurt (A) | 1:0 | 6:1 |
Wolfsburg (H) | 4:0 | 2:0 |
Bochum (A) | 2:4 | 7:0 |
Mönchengladbach (H) | 1:2 | 1:1 |
Union Berlin (A) | 5:2 | 1:1 |
Stuttgart (H) | 2:2 | 2:2 |
Augsburg (A) | 1:2 | 0:1 |
Bilanz | 10 Punkte, 16:12 Tore | 12 Punkte 19:6 Tore |