Die Stille am Olympischen Platz wurde lediglich durch das Rotorengeräusch eines Hubschraubers durchbrochen, der einsam am Berliner Himmel verweilte. Zwei Polizeiautos waren in Stellung gebracht worden und säumten nun, um 18:30 Uhr, den Weg zwischen Stadion und S-Bahnhaltestelle. Tröpfchenweise trudelten Menschen ein, schossen Fotos und gingen gleich im Anschluss wieder ihrer Wege.
Nur wenig, höchstens das im DFB-Grün gehaltene Banner mit der Aufschrift "Anmeldung" sowie einige neongelb-bewesteten Ordner*innen, deutete darauf hin, dass hier in rund anderthalb Stunden das Endspiel um den nationalen Pokal zwischen Bayer Leverkusen und dem FC Bayern stattfinden würde. Steppenläufer, also jene kugelförmigen Gras-Gebilde, die in Western-Filmen häufig als Stilmittel für Tristesse herhalten, hätten die Szenerie noch klischeehaft vervollständigt. Finalstimmung in Corona-Zeiten.
Ein junger Mann mit Leverkusen-Trikot und -Cap, Bayer-Schals an Hals und Handgelenken, betrat das Gelände. Ganz langsam näherte er sich dem Einlasszaun, der auch an diesem Samstag für die Fans geschlossen bleiben sollte. Merklich sentimental blickte er durch die Streben. Mehrere Minuten lang, als wolle er das altehrwürdige Olympiastadion beschwören, dass es der Werkself doch wohlgesonnen sein möge - so, wie vor 27 Jahren, als die Rheinländer ihren letzten Titel ebenda gewannen.
DFB-Pokal: Bayern erstickt Leverkusener Hoffnungen im Keim
Jegliche Hoffnung sollte schon bald im Keim erstickt werden. Nur 16 Minuten, nachdem das erste Geisterfinale der Pokalgeschichte angepfiffen worden war, zappelte der Ball bereits im Netz der Leverkusener, weil David Alaba ein Freistoß-Kunstwerk geschaffen hatte. Acht Minuten später zog Serge Gnabry aus spitzem Winkel ab und sorgte dafür, dass Lukas Hradecky die Kugel abermals aus dem Netz holen musste.
Die Münchner dominierten das Geschehen bis zum Halbzeitpfiff nach Belieben, ließen Bayer 04 überhaupt nicht zur Entfaltung kommen. Neun zu eins lautete die Torschussstatistik im ersten Durchgang. Nach dem Seitenwechsel zeigte sich die Mannschaft von Trainer Peter Bosz deutlich verbessert, kam zu einigen sehr guten Möglichkeiten, ließ aber zumeist die nötige Kaltschnäuzigkeit vermissen.
Die war auf der anderen Seite in Person von Robert Lewandowski zu finden. Zweimal, davon einmal unter gütiger Mithilfe Hradeckys, traf der Pole mitten ins Leverkusener-Herz und brachte somit den 20. DFB-Pokalsieg und das 13. Double der Bayern-Historie mit einem 4:2-Sieg unter Dach und Fach.
FC Bayern: Robert Lewandowski mit 51. Tor - Flick fliegt durch die Luft
"Wir haben richtig gut gespielt, haben vorne attackiert und standen defensiv gut", resümierte der Torjäger vom Dienst, der seine Trefferausbeute in dieser Saison auf 51 schraubte, nach der Partie. Er schob nach: "In der zweiten Halbzeit haben wir gezeigt, dass wir die bessere Mannschaft sind und Pokalsieger werden wollen."
FCB-Übungsleiter Hansi Flick, der nach dem Sieg von seinen Mannen mehrmals hintereinander in die Luft geworfen worden war, sagte auf der Pressekonferenz: "Ich habe nicht gedacht, dass meine Mannschaft so stark ist und mein Gewicht hochkatapultieren kann. Es war schön, einfach mal ein bisschen zu fliegen. Mir bedeutet das vor allem für die Mannschaft sehr viel. Weil sie in den vergangenen Wochen sensationell gespielt hat."
Besonders die erste Halbzeit sei "beeindruckend" gewesen. Tatsächlich ist das, was der 55-Jährige mit seinem Team erreicht hat, mindestens beeindruckend. Der Sieg über Leverkusen war der 17. Pflichtspielerfolg in Serie für die Bayern, keinem Team im deutschen Profi-Fußball ist dies je zuvor gelungen.
Manuel Neuer: "Wir haben erlebt, wie motiviert und hungrig der FC Bayern ist"
Doch nicht nur die Bestmarken, die diese Münchner Mannschaft aufstellt, nehmen langsam beängstigende Formen an. Vielmehr imponiert die nicht statistisch messbare Art und Weise, die unbändige Gier nach Erfolg und die Geschlossenheit. "Wir haben in den letzten Wochen erlebt, wie motiviert und hungrig der FC Bayern ist", sagte Kapitän Manuel Neuer. "Was wir erreicht haben, ist etwas ganz Besonderes. Die Einstellung war sensationell." Und das eben nicht nur in den Begegnungen, in denen es um etwas Zählbares ging.
In den vergangenen Wochen war mehrfach deutlich zu erkennen, wie gut es um die Einstellung bestellt ist. Als die Meisterschaft bereits in trockenen Tüchern war, wurden die sportlich irrelevanten Spiele gegen den SC Freiburg und den VfL Wolfsburg dennoch mit maximaler Professionalität und Seriösität angegangen, letztlich souverän gewonnen.
Dass beispielsweise selbst nach einem eigentlich unbedeutenden Tor zum 3:0 in Wolfsburg Jubeltrauben gebildet werden, allen voran Spieler wie Alaba, Joshua Kimmich, Thomas Müller ihre Freude herausbrüllen, steht sinnbildlich dafür, dass derzeit nahezu alles passt. "Wenn man die Spiele gesehen hat, dann hat man gemerkt, wie motiviert und fokussiert die Mannschaft war und wie viel Spaß sie am Fußball hat", lobte Flick.
Thomas Müller zum achten Mal im DFB-Pokalfinale
Darüber hinaus mutet es faszinierend an, wie es vor allem die Arrivierten immer wieder aufs Neue schaffen, sich derart für ein DFB-Pokalfinale zu motivieren und zu begeistern. Natürlich sollte es selbstverständlich sein, in titelentscheidenden Spielen das Bestmögliche zu geben, allerdings könnte die Vermutung naheliegen, dass solch ein Endspiel beim achten Mal (wie in Müllers Fall) zumindest ein wenig an Reiz verliert. Statt die viel zitierten Zügel schleifen zu lassen, ziehen Müller und Co. sie im genau richtigen Moment aber eben an.
Diese Qualität dürfte auch bei der europäischen Konkurrenz mit Blick auf die Champions League, die dieses Jahr in einem Ein-Spiel-K.o-Modus ausgetragen wird, notiert worden sein. Neuer schickte jedenfalls eine Kampfansage an die Königsklassen-Rivalen: "Wir haben jetzt eine kleine Pause und dann werden wir uns top vorbereiten - und natürlich versuchen, das Triple einzufahren." Selbstbewusste Worte, die man in Anbetracht der vergangenen Monate sofort für bare Münze nimmt.
Bayer 04 hadert: Mut, Vertrauen und Erfahrung fehlten
Das Vertrauen in die eigene Stärke, das aktuell bei dem Dauerdominator aus dem Süden allgegenwärtig ist, hatten die Leverkusener am Samstagabend hingegen größtenteils in der Farbenstadt gelassen. "Wir waren am Anfang nicht im Spiel. Da hat uns der Mut gefehlt, das Vertrauen, die Erfahrung", befand Lars Bender und ergänzte: "Vielleicht merkte man da, dass es das erste Finale für den einen oder anderen war." Wann sich die nächste Möglichkeit für die talentierte Bayer-Truppe gibt, bleibt abzuwarten.
Vielleicht ja schon in der Europa League, die ab August quasi vor der eigenen Haustüre stattfindet. Das Endspielstadion ist die Heimspielstätte des Erzrivalen 1. FC Köln, der letzte Titel im internationalen Geschäft liegt satte 32 Jahre zurück.
Ob der junge Mann mit Leverkusen-Cap, -Trikot, Schal an Hals und Handgelenken ausgerechnet in der Domstadt mehr Glück beim Beschwören hätte? Gegen die aktuellen Bayern muss man es fast gar nicht erst probieren.