Roland Virkus beschlich schon vor fünf Jahren ein mulmiges Gefühl, als man ihn auf Sinan Kurt ansprach. Eine Art böse Vorahnung, die ihn auch drei Monate nach dem aufsehenerregenden Wechsel des damals 18 Jahre alten Offensiv-Juwels zum FC Bayern beschäftigte.
Mächtig in die Haare hatten sich Gladbachs Sportdirektor Max Eberl und der damalige Bayern-Sportvorstand Matthias Sammer wegen Kurt bekommen. Geheime Angebote in Garagen soll es gegeben haben, mediale Verbalscharmützel und am Ende hatte der FCB sein neues Talent - und das für gerade einmal drei Millionen Euro.
"Gladbach wäre die bessere Wahl gewesen", um zum Bundesligaspieler zu reifen, mutmaßte Virkus, Leiter des Gladbacher Nachwuchsleistungszentrums, damals im Interview mit SPOX - und sollte damit Recht behalten.
Den Bundesligaspieler Sinan Kurt gab es seitdem nur ganze 48 Minuten lang. Den Rest der vergangenen fünf Jahre verbrachte Kurt erst in Jugend-, dann in Reservemannschaften der Bayern und von Hertha BSC und schließlich in der österreichischen 2. Liga.
Sinan Kurt bei der WSG Swarovski Tirol: Ein Topf voll Gold
Die WSG Swarovski Tirol hatte Kurt ablösefrei über das "fantastische Netzwerk" ihrer Präsidentin Diana Langes-Swarovski verpflichtet, in der Hoffnung "ein Ass im Aufstiegskampf" zu ziehen. Das sagte Trainer Thomas Silberberger bei Kurts Vorstellung im Februar 2019.
Fünf Monate, 13 Spiele (davon acht von der Bank) und ein Tor später wurde der Vertrag von Kurt nach dem geschafften Aufstieg aufgelöst. "Aufgrund der Ausländerbeschränkung in der Bundesliga ist es schwierig beziehungsweise nicht möglich, dass wir ihn bei uns behalten", erklärte Wattens-Manager Stefan Köck bei laola1.at. Dabei trifft es das Wort "Ausländerbeschränkung" eigentlich nicht.
Gemeint hatte Köck den sogenannten Österreich-Topf, der jene Klubs finanziell entlohnt, die gezielt auf österreichische Spieler setzen. Vereinfacht gesagt: Wer mehr Österreicher einsetzt, erhält mehr Geld. Wer mehr als sechs Legionäre im Kader hat, erhält nichts.
Während ein Klub wie RB Salzburg darüber nur müde lächeln kann, war ein Liga-Neuling wie die WSG mit sehr kleinem Budget auf die Extra-Einnahmen angewiesen. Also entschied sich der Klub im Sommer zwangsläufig für den buchstäblichen Topf voll Gold anstatt für Sinan Kurt. Seitdem ist der 23-Jährige vereinslos.
Neben dem Ex-Frankfurter Caio ist er aktuell der einzige gelistete Profi ohne Arbeitgeber, der von der renommierten Berater-Firma ROGON vertreten wird. Dort sind unter anderem Stars wie Roberto Firmino oder Julian Draxler Kunden. Und unter ihnen Kurt, der ja eigentlich so sein wollte wie sie und sogar das vielzitierte Talent dazu gehabt hatte, aber irgendwann in seiner Karriere völlig falsch abgebogen ist.
Sinan Kurt beim FC Bayern: (N)Oh Happy Day
Für viele - und da gehört Virkus dazu - ging dieser Zeitpunkt mit dem Wechsel zum FC Bayern München im Sommer 2014 einher. Als Kurt "alle offenen Türen" (Virkus) zugeschlagen und der Versuchung an der Säbener Straße nicht widerstehen konnte.
Gleiches gilt auch für Arie van Lent, der Kurt in dessen letztem A-Junioren-Jahr in Gladbach trainiert hatte. "Wenn alles für einen Spieler getan wird und alles bereit ist, um vielleicht den letzten Schritt zu machen und sich der Spieler anders entscheidet, muss man das akzeptieren", sagte van Lent erst im Sommer diesen Jahres dem Express und fügte hinzu: "Dann trauert man ihm auch nicht nach."
Das tun sie ohnehin weder am Niederrhein, noch in München, noch in der Bundeshauptstadt. Zu viele Eskapaden bei zu wenig Fleiß und Mentalität begleiteten Kurt durch seine vier Jahre in der Bundesliga. Als er beim FC Bayern nur neun Monate nach seinem Wechsel an die Isar unter Pep Guardiola bei den Profis debütierte, sang er noch von einem glücklichen Tag.
"Oh Happy Day", hatte er sich als rituelles Einstandslied ausgesucht, das er vor den Mannschaftskollegen vortragen musste. Bastian Schweinsteiger klatschte in der ersten Reihe rhythmisch mit und lachte herzhaft - genau wie Kurts Mannschaftskollegen. Der 18-Jährige war kurze Zeit doch ganz oben angekommen.
Heute ist das Instagram-Video, das von Mitchell Weiser gepostet wurde, nur noch eine lose Erinnerung. Kurt ließ seinen Friseur aus Düsseldorf extra nach München fliegen, charterte für sich und seine Freunde kurzerhand in Frankreich für 1.900 Euro einen Hubschrauber für eine nur 85 Kilometer lange Autostrecke. Das frühe und viele Geld schien dem talentierten Jungen aus Mönchengladbach zu Kopf gestiegen zu sein.
Sinan Kurt bei Hertha BSC: Die Schuld der anderen
"Sinan hat das Problem, dass ihm in der Jugend schon alle gesagt haben, was für ein super Spieler er ist", analysierte Sportvorstand Sammer die Situation damals. Die Bayern handelten, schoben Kurt in die Regionalliga-Mannschaft ab, doch auch dort strich ihn Heiko Vogel wenig später aus dem Kader.
"Er hat in der Vergangenheit sicherlich auch Fehler gemacht", räumte Kurts Berater Michael Decker damals gegenüber der Bild ein, "aber er ist erst 19 Jahre alt und wird daraus lernen", versuchte er noch zu beschwichtigen. Doch die "Fehler" und das unprofessionelle Verhalten sollten sich auch bei Kurts nächstem Arbeitgeber fortführen.
Hertha BSC verpflichtete Kurt im Winter 2016 für 500.000 Euro, die Bayern sicherten sich eine Rückkaufklausel in der leisen Hoffnung, Kurt werde vielleicht doch noch den letzten Schritt in seiner Entwicklung gehen. Das Gegenteil war der Fall, der Druck der hohen Erwartungen schien zur Last zu werden.
In Kurts drei Jahren an der Spree kamen zu den 44 Bundesligaminuten im ersten Bayern-Jahr nur noch vier weitere hinzu. Für weit mehr Aufsehen sorgte er außerhalb des Platzes, als er einem minderjährigen Mädchen Bilder von seinem erigierten Penis schickte und dafür ein Strafbefehl beantragt wurde.
In Berlin habe man ihm "den Spaß am Fußball genommen", sagte Kurt später im Interview mit der Sport Bild: "Ich hatte den Kopf nicht frei, weil ich wusste, dass es keine Ebene zwischen dem Trainer und mir gab." Unter Pal Dardai habe er sich "ungerecht behandelt gefühlt".
WSG-Manager Köck über Kurt: "Er ist ein toller Mensch"
Der sah die Sache hingegen gänzlich anders, auch weil Kurt beispielsweise vor dem Start in seine letzte Hertha-Saison mit Übergewicht aus der Sommerpause gekommen war. "Wir gehen jetzt in die dritte Saison mit Sinan - und es gibt immer wieder die gleichen Rückfälle", sagte Dardai im August 2017: "Ich verstehe nicht, warum ich ihm das immer wieder sagen muss. Ich habe ein Problem, wenn man junge Spieler immer wieder motivieren muss."
Kurt floh aus Deutschland. Weg von dem Image des dekadenten Problem-Profis mit fehlender Einstellung, das er sich selbst über Jahre erarbeitet hatte. "In Österreich gibt es all diese Vorurteile nicht", hatte Kurt noch im April gesagt und bei der WSG sprachen sie tatsächlich in höchsten Tönen vom einstigen Toptalent.
"Ich kann von dem Jungen nur das Beste sagen, er hat Null Star-Allüren gehabt, er ist ein toller Mensch", sagte Wattens-Manager Stefan Köck bei Laola1.at: "Er hat immer wieder seine Klasse gezeigt, war ein sehr angenehmer und super Typ." Es waren Köcks Abschiedsworte an Sinan Kurt. Ob sie dessen Vereinssuche erleichtern, bleibt abzuwarten. Aussichtslos ist sie mit erst 23 Jahren sicherlich noch nicht.