Es kam, wie es beinahe kommen musste. Am Ende des ersten Jahres steht das Wort Enttäuschung. Für alle Seiten. Und eine Evaluation: Kam der Transfer zu früh? War er ein Fehler? Ist die Ehe nach einem Jahr bereits gescheitert?
Die Vorschusslorbeeren machten es allerdings auch beinahe unmöglich, alle Ansprüche zu erfüllen.
Im Sommer 2016 kam Renato Sanches von Benfica zum FC Bayern München. Als Europameister, als bester junger Spieler der EM in Frankreich, als Transferziel aller europäischen Topklubs. Im Oktober adelte ihn die Tuttosport darüber hinaus zum Golden Boy, damit stand er unter anderem in der Tradition von Lionel Messi, Wayne Rooney, Kun Agüero, Mario Götze oder Paul Pogba.
Und dann gab es da dieses verflixte Preisschild, auf dem ein Millionenbetrag stand, den Sanches beim FCB schließlich auch als Rückennummer bekam. Das war jedoch nicht, analog zu seiner Position, die Nummer 6 (Thiago) oder 8 (Javi Martinez). Nein, der Youngster trägt in München die 35.
Klar, ein Spieler selbst kann nichts für seine Ablösesumme. Dennoch beeinflusst sie die Bewertung der Leistungen eines Neuzugangs in der Öffentlichkeit spürbar. Besonders bei einem Klub wie dem FC Bayern, bei dem solche Preise (noch) nicht an der Tagesordnung sind. Immerhin war Sanches, gemeinsam mit Mats Hummels, seinerzeit der viertteuerste Transfer der Klubgeschichte.
Renato Sanches: Ernüchterndes Zwischenfazit
Unter dem Strich fällt das Zwischenfazit für den 19-Jährigen nach einem von fünf Vertragsjahren ernüchternd aus: Anpassungsschwierigkeiten, Leistungstief, rückläufige Spielzeiten.
Während er in der Hinrunde - auch begründet durch den Vertrauensvorschuss nach der starken EM - noch vermehrt Möglichkeiten bekam, Spielzeit zu sammeln und sogar in fünf von sechs Champions-League-Gruppenspielen auf dem Platz stand, rutschte er im Frühjahr für geraume Zeit beinahe gänzlich aus der Rotation.
Selbst in prädestinierten B-Elf-Spielen ließ Carlo Ancelotti den Youngster häufig 90 Minuten auf der Bank. In der Champions League durfte er in der K.o.-Phase nur noch elf Minuten ran - zu einer Zeit, als es gegen Arsenal im Aggregat bereits 8:1 stand.
Wenngleich Ancelotti den Portugiesen zum Ende der Saison öffentlich in Schutz nahm, schien er dessen Fähigkeiten nicht vollends zu vertrauen. 2016/2017 bedeutete für Sanches Stagnation, wenn nicht sogar Rückschritt.
Die spielerische Anlage des Youngsters wirkte unreif. Seinem Spiel war bei den wenigen Einsätzen die fehlende Praxis deutlich anzumerken.
Renato Sanches zeigt Schwächen beim Spielverständnis
Sanches offenbarte Schwächen in Sachen Spielverständnis, schien in nahezu jeder Situation die falsche Entscheidung zu treffen. Er ging ins Dribbling, wenn der Raum für den Pass in die Tiefe brachlag, er legte quer, wenn die Gegenspieler Platz für ein Dribbling anboten, er schlug lang, wenn ein Kurzpass die bessere Option gewesen wäre. Immer wieder lief er sich gegen zwei, drei Gegner fest, bis der Ball schließlich weg und ein Foul der einzige Ausweg war.
Seine starke Physis brachte er selten gewinnbringend ein. Neben gestandenen, international erfahrenen Profis wie Arturo Vidal, Xabi Alonso oder Thiago wirkte er grün hinter den Ohren.
Die statistischen Kennwerte aus der ersten Sanches-Saison im rot-weißen Dress belegen die Defizite gegenüber seinen Konkurrenten im Mittelfeldzentrum. Zwar ist er bei der Passquote mit 88 Prozent auf einem hohen Niveau (Alonso 89,4, Vidal 87,8, Thiago 90,2, Kimmich 89,9), allerdings fiel er etwa mit nur 45,5 Prozent gewonnenen Zweikämpfen (Alonso 56,5, Vidal 55,7, Thiago 59,8, Kimmich 56,9) deutlich ab.
Zudem strahlte Sanches kaum Torgefahr aus, so war er während seiner 617 Einsatzminuten an keinem Tor beteiligt und gab lediglich fünf Torschüsse ab.
Sanches: "Habe mir mehr erwartet"
Sanches selbst ordnete sein Premierenjahr in München selbstkritisch ein: "Ehrlich gesagt war meine erste Saison hier nicht sonderlich gut. Ich habe mir auch mehr erwartet, aber das nächste Jahr wird besser. Mit Sicherheit."
Das muss es aus seiner Sicht auch. Das durchwachsene Jahr hatte nämlich Folgen für seine Nationalmannschaftskarriere. Seit seinem Wechsel lief er nur noch zweimal für Portugals A-Auswahl auf. Im Gegensatz zu zahlreichen Europameister-Kollegen fuhr Sanches nicht zum Confed Cup, sondern zur U21-EM in Polen. Dort enttäuschte er, nach der Gruppenphase war Schluss.
Perspektive beim FC Bayern München
Wenige Tage vor dem Trainingsbeginn der Bayern am kommenden Samstag steht Sanches am Scheideweg. Die vergangene Saison lief nicht nach Plan und die Perspektive hat sich für die kommende Saison nicht gerade verbessert.
Ancelotti ist nach wie vor im Amt. Der Italiener schaffte es in der vergangenen Saison nicht, die jungen Spieler zu fördern und weiterzuentwickeln. Sanches selbst ist, aller öffentlichen Rückendeckung zum Trotz, das Paradebeispiel für diese These.
Auch personell hat sich die Lage nicht entspannt. Zwar hat Xabi Alonso seine Karriere beendet und Joshua Kimmichs Zukunft liegt dem Vernehmen nach rechts in der Viererkette. Allerdings dürften die Neuzugänge Sebastian Rudy und Corentin Tolisso im Vergleich die Nase vorn haben.
Diese Einschätzung teilte auch der ehemalige Bayern-Profi und Kult-Trainer Gernot Rohr gegenüber der tz: "Tolisso ist besser als Sanches. Viel besser sogar."
WM 2018 als Ziel
Für Spieler und Verein wird die Liaison zu einer Geduldsprobe. Noch ein verlorenes Jahr wie das vergangene kann sich Sanches mit Blick auf einen WM-Kaderplatz bei der Seleccao nicht erlauben, die Bayern möchten das Dauerthema der Millionen-Enttäuschung möglichst umgehen.
Eine verzwickte Situation, die Sanches das entreißt, was er in seinem Alter und seinem Entwicklungsstadium eigentlich bräuchte: Zeit. Zeit, Spielpraxis und die Freiheit, auch mal ein schwächeres Spiel machen zu dürfen und trotzdem wieder seine Möglichkeiten zu bekommen.
Kein Wunder, dass sich seit Wochen hartnäckig Wechselgerüchte um den 19-Jährigen hielten. Juventus, Manchester United und sogar den FC Barcelona brachten internationale Medien als potentielle Abnehmer ins Gespräch.
"Prinzipiell werde ich bei Bayern bleiben", ordnete der Youngster gegenüber der portugiesischen Record allerdings ein: "Bayern München ist ein großartiger Verein und ich genieße es, hier zu sein."
Jedoch ist sich Sanches um den Ernst seiner Situation bewusst. Und so schob er hinterher: "Falls ich nicht bei Bayern bleibe, werde ich auch nicht entmutigt sein. Ich werde weiterhin und wie gewohnt arbeiten."
Was macht Bayern mit der Personalie Renato Sanches?
Die medial kolportierte Wahrscheinlichkeit des "Nicht-bei-Bayern-Bleibens" variierte im Laufe der letzten Wochen.
Hieß es zwischenzeitlich, die Münchner seien bereit, den Portugiesen für 30 Millionen Euro zu verkaufen, berichtete der kicker in seiner Montagsausgabe, der Klub wolle ihn nicht für weniger Geld abgeben, als man selbst investiert habe.
Verständlich, dann nämlich würden sich die Bayern einen Fehler und eine verlorene Geduldsprobe eingestehen.
Lediglich eine Leihe, so der kicker, liege im Bereich des Möglichen. Mit einem solchen Modell machten die Bayern in der Vergangenheit gemischte Erfahrungen. Während etwa Philipp Lahm (Stuttgart), David Alaba (Hoffenheim) oder Toni Kroos (Leverkusen) bei ihren Leihstationen den nächsten Schritt machten, konnten jüngst Pierre-Emile Hojbjerg (Augsburg, Schalke) oder Gianluca Gaudino (St. Gallen) keinen Anschluss mehr finden.
Besonders im zentralen Mittelfeld, in dem immer wieder hochkarätige Spieler nachgeschoben werden, wäre eine Leihe alles andere als eine Garantie. Zumal sie nur bei entsprechend attraktiven Angeboten Sinn machen würde. Sanches bräuchte einen Klub, bei dem er verlässlich auf hohem Niveau, am besten europäisch, Spielpraxis sammelt.
So steht Sanches nun vor einer Evaluation über den weiteren Verlauf seiner Karriere. Und die Bayern vor einer Evaluation über die eigene Geduldsfähigkeit. Ergebnis offen.