Vereinsinterne Lektüre scheint es bei Borussia Dortmund in der vergangenen Woche kaum gegeben zu haben. "Ich habe es wirklich nicht gelesen, weil ich gerade alles, alles auf den Erfolg auslegen möchte", sagte Edin Terzic am Freitag, als er auf ein am Mittwoch erschienenes Interview von Mats Hummels angesprochen wurde. Darin kritisierte dieser den Trainer derart, dass eine weitere Zusammenarbeit zwischen den beiden fast gänzlich ausgeschlossen werden kann.
Auch Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke hatte vermeintlich nicht mitbekommen, dass sein Coach bei DAZN Einblicke in die sportlich missratene Zeit des vergangenen Winters gegeben hatte. Terzic gab an, "definitiv in dieser Saison in einer Phase gewesen" zu sein, "wo es nicht selbstverständlich war, dass ich am nächsten Tag zur Arbeit fahren durfte". Kurz darauf lächelte Watzke eine damalige Entlassung Terzics als "steile These" weg und erklärte: "Ich kann sagen, dass Edin nicht gewackelt hat! Punkt."
Man sollte sich von derlei Auskünften nicht in die Irre führen lassen. Niemand, der beim BVB angestellt ist, lebt hinter dem Mond. Selbstverständlich gehen Schlagzeilen dieser Tragweite an niemandem ungekannt vorbei. Terzic wird von Hummels' drastischen Aussagen genauso umgehend erfahren haben wie dass es eine Tatsache ist, dass der Trainer nach Abschluss der Hinrunde in der Bundesliga gehörig auf der Kippe stand.
Doch Terzic fiel nicht. Er zog im Jahr 2024 den Kopf aus der Schlinge und ins Champions-League-Finale ein. Der Trainer trotzte wieder einmal der beinahe durchgehenden Kritik an ihm.
Edin Terzic beim BVB: Kuriosum und Phänomen zugleich
Es ist ein Phänomen: Schon während Terzics 32 Pflichtspiele andauernden Interimsamtszeit in der Saison 2020/21 mäkelte man nach einem biederen Start an ihm herum, in den beiden vergangenen Spielzeiten nahm der Tadel angesichts der jeweils ernüchternden Hinrunden deutlich an Schärfe zu.
Am Ende jedoch steht in Terzics Statistik als Dortmund-Trainer: Pokalsieger 2021, Beinahe-Meister 2023, CL-Finalist 2024. Ein weiteres Tor im Mai gegen Mainz und eine bessere Chancenverwertung im Mai gegen Real Madrid, dann wäre Terzic aus all seinen drei Spieljahren mit Titeln hervorgegangen. Das ist für den 41-Jährigen, der beim BVB seine erste Stelle als allein verantwortlicher Chefcoach antrat, eine zweifelsohne beachtliche Bilanz.
Der mögliche Titel-Hattrick existiert jedoch nur im Konjunktiv. Gerade an der dramatisch verspielten Meisterschaft im Vorjahr hat Terzic genug Aktien, weil er es im Gegensatz zum Endspiel in Wembley am Samstag nicht schaffte, seine Mannschaft auf den Punkt genau einzustellen. Das Kuriosum an Terzic ist, dass trotz dieser Resultate unter ihm die Kritik nicht von ungefähr kommt, sondern durchaus Berechtigung hat.
2023/24 war für den BVB unter Edin Terzic deutlich mühsamer
Terzics beide volle Spielzeiten weisen in etwa dasselbe Muster auf: in der Hinrunde schwach, in der Rückrunde stark. In Jahr eins ging Dortmund als Fünfter mit sechs Punkten Rückstand auf die CL-Plätze in die Winterpause, zwölf Monate später standen Rang sechs und zwei Zähler Rückstand zu Buche. Das ist dem Anspruch der Borussia unangemessen, ein Halbjahr voller kritischer Töne rund um den Verein daher in beiden Fällen unausweichlich und nachvollziehbar.
Während sich das Team in der Rückserie 2022/23 mit zwölf Siegen in 17 Partien in einen wahren Rausch spielte und auf allen Ebenen funktionierte, gab es das zwischen den beiden Halbjahren in der soeben abgelaufenen Saison nicht mehr in dieser Radikalität. 2023/24 war für den BVB deutlich mühsamer, in der Mehrheit fehlten Flow und Leichtigkeit.
Lange Zeit taten sich die Westfalen mit und ohne den Ball extrem schwer. Der Spielaufbau funktionierte nicht, gegen hoch anlaufende Teams sogar nicht einmal im Ansatz. Dann sahen Dortmunds Bemühungen teils hilflos aus, dutzende lange Bälle segelten über das Mittelfeld hinweg ins Niemandsland.
BVB unter Edin Terzic: Es fehlen Lösungen gegen tiefe Blöcke
Stahl der Gegner den Ball, griff das Gegenpressing aufgrund ungenügender Positionierungen der Spieler nur selten, so dass man häufig in schlecht abgesicherte Konter lief. Dies war gegnerunabhängig. Selbst individuell klar schwächer besetzte Mannschaften pressten den BVB früh, da dies als erfolgversprechendste Variante ausgemacht wurde, um das Dortmunder Spiel zu manipulieren.
Beinahe durchweg fehlten in dieser Saison auch Antworten auf Umstellungen des Gegners während der Partien. Dies war auch am Samstag in London gegen Real zu sehen. In Halbzeit zwei zogen sich die Königlichen weiter zurück und schlossen die Passwege in die Tiefe. Gegen diesen Verbund und die veränderte Konstellation fiel dem BVB nur wenig ein.
Exakt für solche Situationen benötigt es aber dringend Lösungen. Schließlich verbarrikadieren sich gegen Dortmund die allermeisten Teams in der Bundesliga und verteidigen in einem tiefen Block, den die Borussen spielerisch zu bewegen haben, um Räume zu kreieren. "Borussia Dortmund muss in der Lage sein, jeden Gegner der Bundesliga auch mal 45 Minuten komplett dominieren zu können und nicht gegen gute Gegner nur noch durch Konter zum Erfolg zu kommen", hatte Hummels bemängelt.
BVB: Die Underdog-Rolle hilft im Liga-Alltag nicht weiter
Die Dortmunder Kaderplaner um Sebastian Kehl und Sven Mislintat sollten daher beim anvisierten nächsten Umbruch der Mannschaft ein Hauptaugenmerk auf Spieler legen, die Lust auf den Ball haben, über Ballbesitz Dominanz ausstrahlen können und auch in engen Situationen Ruhe und Geduld im Pass- und Positionsspiel beweisen. Die Underdog-Herangehensweise aus wenig Ballbesitz, tiefer Defensive und dem Lauern auf Konter funktionierte in der Champions League gewiss hervorragend, im grauen Liga-Alltag hilft sie aber nicht weiter.
In einigen der genannten Teilgebiete hat sich Terzics Truppe im zweiten Halbjahr auch verbessert. Der Input der beiden zum Winter geholten Co-Trainer Nuri Sahin und Sven Bender fruchtete. Dortmund hatte anschließend häufiger sowohl spielerische Lösungen im Ballbesitzspiel (Sahins Aufgabengebiet), als auch ein konsequenteres Abwehrverhalten im Repertoire (Benders Metier).
So hat es Terzic bei drei Versuchen zum dritten Mal geschafft, die Spieler Richtung Saisonende in Bestform und die Mannschaft zum Funktionieren zu bringen - diesmal jedoch nur in der CL. Gerade das zweite Bundesliga-Halbjahr, in dem man nur drei Punkte mehr als in der Hinrunde einfuhr, blieb nicht ohne enttäuschende Unentschieden (Heidenheim, Wolfsburg) und drastische Niederlagen (Hoffenheim, Leipzig, Mainz).
BVB: Das ist die nächste große Herausforderung für Edin Terzic
Die so oft bemängelte und herbeigesehnte Konstanz über ein gesamtes Spieljahr hinweg bleibt somit zunächst weiter ein frommer Wunsch. Welche Auswirkungen der Frust aus Wembley für die neue Spielzeit hat, wird sich erst noch zeigen müssen. Es klang aber durchaus vielsagend, was Verteidiger Nico Schlotterbeck bereits Samstagnacht von sich gab: "Ich hoffe, dass wir dieses Jahr besser in die Vorbereitung starten und dann eine bessere Bundesligasaison spielen. Ich glaube, dass uns letztes Jahr das Meisterdrama am Anfang der Saison auch etwas gekillt hat."
Für Terzic ist das die nächste große Herausforderung. Der allem Anschein nach großflächige Umbau des Teams könnte helfen, um neue Impulse und Energie zu erwecken. Diesen Spagat zwischen Frustbewältigung und Aufbruchstimmung hat Terzic zu bewältigen, als BVB-Trainer wird er weiter unaufhörlich liefern müssen.
Sein Vorteil: Die Vereinsführung steht hinter ihm, der neue Geschäftsführer Sport Lars Ricken gilt als enger Vertrauter. Diesen Vertrauensvorschuss hat sich Terzic mit dem Erreichen der CL-Qualifikation und dem starken Lauf bis nach Wembley erarbeitet - und dies trotz, zumindest nach eigener Aussage, der zwischenzeitlichen Jobunsicherheit.
BVB: Die Daten zur Saison 2023/24 von Borussia Dortmund
Wettbewerb | Spiele | Siege | Unentschieden | Niederlagen |
Bundesliga | 34 | 18 | 9 | 7 |
Champions League | 13 | 7 | 3 | 3 |
DFB-Pokal | 3 | 2 | - | 1 |