Welche Ideen haben Sie für den Leipziger Kader für die kommende Saison?
Nagelsmann: Grundsätzlich hätte ich kein Problem damit, wenn der Kader so zusammenbliebe, wie er ist. Wir haben eine junge, talentierte Mannschaft. Dass es trotzdem immer Verbesserungspotential gibt, ist ganz normal. Grundsätzlich sollten wir uns im Bereich der Kommunikation verbessern, dass wir noch mehr miteinander reden und uns gegenseitig unterstützen. Das ist gerade nach der Corona-Pause schon auffällig. Wenn wir Angelino behalten könnten, wäre ich für die Außenverteidigerpositionen sehr zufrieden. Grundsätzlich kann man schauen, wie wir mehr Torgefahr auf die rechte Seite bekommen, wie die Langzeitverletzten zurückkommen und auf welcher Position wir gegebenenfalls reagieren müssten. Man könnte dazu dem Mittelfeld ein bisschen eine andere Struktur geben. Aber es kann auch sein, dass wir gar keinen Spieler holen könnnen. Es gibt immer die Wunschträume eines Trainers und dann die normale Realität - und dann muss man sehen, dass man sich irgendwo in der Mitte trifft. Aber das werden wir schon hinbekommen.
Gibt es Trainer, die Sie besonders beeindrucken?
Nagelsmann: Es gibt natürlich Trainer, deren Spielidee meiner ähnelt. Aber um einen Anderen zu nennen: Diego Simeone vermittelt seit Jahren einen ähnlichen Fußballstil, der nicht immer ganz angenehm ist für die eigenen Spieler und auch nicht immer der spannendste ist. Aber die Spieler folgen ihm trotzdem bedingungslos. Der Kollege muss eine außergewöhnliche Gabe haben. Ich glaube, dass 99 Prozent der Trainer, die immer nur 4-4-2-flach, sehr tief stehen und so fies spielen lassen würden, nach zwei Jahren verbrannt wären. Aber er nicht. Er rennt draußen rum wie Dynamit und kommt trotzdem super an bei seinen Spielern. Diego Simeone muss irgendwas haben, das seine Spieler total in seinen Bann zieht. Das ist außergewöhnlich.
Gibt es einen Trainer, der Sie in einem Spiel mal richtig überrascht hat?
Nagelsmann: Es gab mal ein Spiel zu Hoffenheimer Zeiten in Freiburg, das sehr interessant war. Da haben Christian Streich und ich immer wieder hin- und hergewechselt zwischen Dreier- und Viererkette. Wenn er Dreierkette gespielt hat, haben wir auf Viererkette gestellt. Wenn er auf Viererkette ging, haben wir auf Dreierkette umgestellt. Ich glaube, das ging sechs, sieben Mal so in diesem Spiel. Das war taktisch sehr, sehr witzig.
Gibt es einen Spieler, der Ihrer Meinung nach völlig unterschätzt wird?
Nagelsmann: Flo Grillitsch ist in meinen Augen einer der besten Sechser in der Bundesliga, der schon ein bisschen unter dem Radar läuft. Man liest zumindest selten was über ihn. Er ist einer der außergewöhnlichsten Spieler, die ich trainiert habe. Er hat noch ein paar Baustellen, das weiß er, das habe ich ihm auch oft genug gesagt. Aber er ist ein außergewöhnlicher Fußballer und besitzt eine unglaubliche Gabe, den Spielrhythmus zu bestimmen. Es wird eine der Hauptaufgaben am Freitag für uns sein, ihn auszuschalten.
Was sehen Sie beim Scouting von Spielern, was andere nicht sehen?
Nagelsmann: Mit dem Scouting selbst sind wir im Trainerteam ja weniger befasst. Wir erstellen gewisse Positionsprofile und die Scouts suchen dann nach Spielern. Grundsätzlich schaue ich weniger auf die Position. Anders als viele andere, schaue ich erst mal, wie sich ein Spieler wohlfühlt mit dem Rücken zum Tor und mit dem Gesicht zum gegnerischen Tor. Das ist die erste Unterscheidung, die ich treffe. Wenn ich mir da einen Eindruck verschafft habe, habe ich plakativ ausgedrückt schon fünf Positionen ausgeschlossen für den Spieler. Wenn du gut bist mit dem Rücken zum Tor, ergibt es keinen Sinn, dich als Innenverteidiger spielen zu lassen. Wenn du aber katastrophal mit dem Rücken zum Tor bist, ergibt es keinen Sinn, dich als Mittelstürmer spielen zu lassen. Dann gehörst du eher ins Mittelfeld, um das Gesicht zum Tor zu haben. Das ist eine Unterscheidung, die viele meiner Meinung nach nicht machen. Die ich aber treffe, um erst mal zu kategorisieren, auf welcher Position ein Spieler überhaupt eingesetzt werden könnte. Daher lege ich mich beim Scouting nicht auf eine Position für einen Spieler fest. Wenn ich das machen würde, würde der Kader sehr teuer werden.
Werner-Abgang? "Kannst einen Spieler ja nicht klonen"
Wie würden Sie einen Spieler wie beispielsweise Timo Werner ersetzen? Würden Sie versuchen, ihn 1:1 zu ersetzen?
Nagelsmann: Das geht nicht, du kannst einen Spieler ja nicht klonen. Würde uns Timo Werner verlassen, würde es in erster Linie darum gehen, 34 Scorerpunkte zu ersetzen. Das wäre die Hauptaufgabe, die man vielleicht auch nicht nur durch einen Spieler lösen könnte. Wichtig ist, dass wir am Ende des Tages auf den gleichen Output kommen, das ist das Komplexe an der Thematik.
Wird es taktisch noch einmal so eine Neuerung geben, die womöglich auch Sie völlig überraschen wird? Wie damals, als die Viererkette gekommen ist und der Libero ersetzt wurde?
Nagelsmann: Es gibt immer wieder Nuancen, die dazukommen. Frankfurt zum Beispiel praktiziert etwas, was wir damals auch in Hoffenheim mit Benjamin Hübner angefangen haben: Dass man den Innenverteidiger mitten im Spiel immer mal wieder nach vorne sprinten lässt in die Box, wenn einer eine Flanke schlägt. Hinteregger macht das zehn, zwölf Mal pro Spiel, daher glaube ich schon, dass das bewusst geschieht - da muss ich Adi Hütter mal fragen, ob sie das bewusst trainieren. Die Idee ist, die Box mit mehr Personal zu fluten, vor allem auch mit torfernen Spielern, die man als gegnerischer Verteidiger nicht so kennt und die daher schwerer zu verteidigen sind. Solche Dinge passieren immer wieder, doch man erfindet deswegen nicht das Rad immer wieder neu. Letztendlich ist es gut, dass sich das Rad immer weiterdreht, Fußball ist ein fahrendes Geschäft, es geht immer weiter. Aber die extreme taktische Innovation wird es eher nicht mehr geben.
Gibt es bei RB Spieler, die Sie seit Ihrer Ankunft extrem überrascht haben?
Nagelsmann: Überrascht vielleicht nicht, aber bei Marcel Sabitzer bin ich sehr erfreut über seine Entwicklung. Letztes Jahr hat er auf einer eher offensiven Position spielend trotz sehr vieler Chancen eher wenige Tore erzielt. Jetzt spielt er auf der Sechs und ist dort einer der stabilsten Spieler auf der Position in der Bundesliga. Da bin ich überrascht, dass er das so gut angenommen hat. Am Anfang dachte ich, er würde mehr murren, dass er weiter hinten spielen muss. Aber er hat eine große Freude daran entwickelt, dort zu spielen. Er ist ein außergewöhnlicher Typ, der manchmal sehr ruhig ist. Aber wenn du mit ihm sprichst, hat er viel zu erzählen und zu vielen Dingen auch eine klare Meinung. Er ist ein sehr erwachsener, reifer Mensch und ich bin froh, dass wir ihn haben.