Am Ende der vergangenen Saison war es noch erlaubt. Lange mussten damals die Reporter warten, ehe Marco Reus nach der letzten Partie am 34. Spieltag aus der Kabine in den Katakomben des Gladbacher Stadions kam und ein Fazit der tragisch-guten BVB-Spielzeit zog.
"Wir waren nah dran, aber in den entscheidenden Momenten waren die Bayern einfach einen Tick besser. Das muss man neidlos anerkennen. Sie haben eine gewisse Erfahrung und zeigen vielleicht auch eine andere Mentalität auf dem Platz in bestimmten Spielen", sagte Reus.
Ein paar Sätze später kam es wieder, das M-Wort: "Wir haben dieses Jahr einen großen Schritt gemacht, was unser Auftreten angeht. Wir haben in dieser Saison eine andere Mentalität auf dem Platz gezeigt, natürlich auch durch Spieler, die wir neu verpflichtet hatten."
Reus will Mentalitätsdebatte vermeiden - und stößt sie neu an
Vier Monate später, die neue Bundesligasaison ist in vollem Gange, klingt Reus plötzlich ganz anders: "Das geht mir so auf die Eier mit euch, mit eurer Mentalitätsscheiße. Ganz ehrlich!", wütete der Dortmunder Kapitän nach dem 2:2 in Frankfurt am Sky-Mikro. Und legte nach: "Kommt mir jetzt nicht mit eurer Mentalitätsscheiße. Jede Woche immer dieselbe Kacke!"
Dass Reus nach dem späten Ausgleich und den zwei verlorenen Punkten unmittelbar nach Spielende seinem Frust im Interview freien Lauf ließ, ist vollkommen nachvollziehbar und eine normale menschliche Reaktion. Er wollte als Kapitän schlichtweg seine Truppe schützen. Dass er mit seinen Aussagen die Mentalitätsdebatte, die die Dortmunder beinahe während der gesamten Vorsaison begleitete, neu entfacht hat, dürfte ihm beim späteren Blick in die Medienwelt nicht verborgen geblieben sein.
Zumal Reus selbst noch vor drei Wochen nach der Niederlage gegen Union Berlin meinte: "Grundsätzlich müssen wir uns komplett hinterfragen, eine andere Einstellung, eine andere Mentalität und einen anderen Willen an den Tag legen."
Man kann nun trefflich darüber diskutieren, was denn überhaupt mit "Mentalität" gemeint ist und es dabei zum Beispiel mit Leverkusen-Trainer Peter Bosz halten, der im Interview mit 11freunde sagte: "Mir kommt es manchmal vor, als würden Leute, die nicht allzu viel Ahnung von Fußball haben, den Begriff Mentalität nutzen, um sich zu erklären, warum ein schwächeres Team einen Favoriten besiegt. So brauchen sie nicht in die tiefere Analyse einzusteigen."
In Reus' Aussagen steckt auch Enttäuschung über sich selbst
Unabhängig einer genaueren Begriffsdefinition ist nach 20 Bundesliga-Auswärtsspielen unter Trainer Lucien Favre, darunter zehn Dortmunder Siege, augenscheinlich: Dem BVB fehlt es in den "Alltagspartien" in der Fremde an Überzeugung, Ausstrahlung und Killerinstinkt. Mit Blick auf Reus' Frust ist vielmehr interessanter: Was hat sein Wutausbruch zu bedeuten?
Schließlich ist der Dortmunder Kapitän nicht dafür bekannt, in Interviews seine Emotionen derart zur Schau zu stellen. Dass hier jedoch ein wunder Punkt angesprochen wurde, war selbst für Hobby-Psychologen ersichtlich.
Allerdings nicht einer, der nur die Mannschaft betrifft, sondern auch Reus selbst. Wer den ehrgeizigen und selbstkritischen Charakter des 30-Jährigen kennt, weiß: In Reus' Aussagen steckt auch die Enttäuschung über die eigene Leistung.
Reus als das Spiegelbild der bisherigen BVB-Saison
Reus ist damit gewissermaßen ein Spiegelbild der Borussia: Er hat allenfalls solide in die neue Spielzeit gefunden, wirklich rund läuft es noch nicht, die Bestform ist aktuell weit entfernt. Vereinfacht ausgedrückt: Top in den Heimspielen (zwei Spiele, drei Tore), Flop in den Auswärtsspielen. Auch in den beiden Länderspielen gegen die Niederlande und in Nordirland blieb Reus blass und hatte kaum Einfluss auf das Spiel.
Den hätte er in den beiden vergangenen Spielen mit den Schwarzgelben durchaus haben können, doch sowohl gegen Barcelona, als auch in Frankfurt vergab Reus Großchancen - allen voran natürlich den verschossenen Elfmeter gegen die Blaugrana. Am Sonntag hatte er zwölf Minuten vor dem Ende die Gelegenheit, freistehend das 3:1 zu erzielen, sein Schuss geriet allerdings viel zu harmlos.
Es war ohnehin eine ziemlich unauffällige Partie des Dortmunder Zehners, in der überlegen geführten ersten Halbzeit kam Reus auf weniger als 20 Ballkontakte. Diese Statistik steigerte sich zwar nach der Pause, doch als dem BVB nach der erneuten Führung der Zugriff auf die Partie entglitt, kam vom Kapitän nur noch wenig. Selbes Spiel bei der blamablen Vorstellung an der Alten Försterei.
Dortmunder Auswärts-Gesicht: Auch Reus lässt sich anstecken
Was auffällt: Auch Reus lässt sich in diesen Partien dann von der aufkeimenden Unruhe anstecken und zeigt in der Fremde wie die Mannschaft zu häufig ein anderes Gesicht. Es ist wahrhaft nicht so, dass er dann fehlerlos agieren würde, während seinen Mitspielern die Konzentration flöten geht.
"In der Rückrunde hat uns in gewissen Partien die Erfahrung gefehlt und vielleicht auch die Gier, dass jeder einzelne weiß: dieses Jahr ist unheimlich viel drin", schloss Reus im Mai in Gladbach sein Saison-Resümee.
Was zweifelsfrei schon jetzt jeder bei Borussia Dortmund wissen sollte: Um den anvisierten Angriff auf die Meisterschaft erfolgreich abzuschließen, benötigt es einen Reus in Top-Form - so schnell wie möglich.