Die Familienfotos auf dem Schreibtisch in seinem Büro sollen bereits verschwunden sein. Christian Heidel war auch in dieser Hinsicht konsequent, nachdem der Sportvorstand des FC Schalke 04 am Montag vergangener Woche dem mächtigen Aufsichtsratschef Clemens Tönnies eröffnet hat, aus seinem bis zum 30. Juni 2020 datieren Vertrag vorzeitig auszusteigen. Spätestens am Saisonende ist für ihn Schicht auf Schalke.
"Wenn ich das Problem bin für die Unruhe, dann muss ich einfach reagieren." Es war einer der zentralen Sätze, die der 55-Jährige am Samstagnachmittag sprach. Keine Kamera, kein Mikrofon ließ Heidel in der Mainzer Arena aus, deren Bau er auf einer Ackerfläche am Europakreisel vor einem Jahrzehnt initiiert hat. Ihm war dieser Zusammenhang zwar einerseits "richtig unangenehm", andererseits passte diese Pointe zu einem gerne etwas hemdsärmelig auftretenden Typen, der sich seinen persönlichen Rückzugsort ("meine Dependance") in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt, seiner Heimat- und Geburtsstadt, immer bewahrt hat.
Das Wochenende verbrachte er dann auch in seiner Mainzer Wohnung im Winterhafen und nicht in Gelsenkirchen, wo er zwar die Geschäfte weiterführen, aber keine Weichenstellungen mehr vornehmen soll. Wer aber wird der neue starke Mann? Zur Personalie Jonas Boldt, nach seinem Abgang bei Bayer Leverkusen verfügbar und auch von Tönnies geschätzt, äußerte sich Heidel wie folgt: "Ich schätze ihn sehr. Wenn man mich um meine Meinung fragt, werde ich die sagen. Aber ich werde nicht darüber entscheiden, wer mein Nachfolger wird."
FC Schalke 04: Jonas Boldt und Klaus Allofs als Doppelspitze?
Wird Schalke es wagen, den 37-jährigen Boldt, der sich unter dem Bayer-Kreuz zu einem profunden Kenner des Marktes entwickelte, in die erste Reihe zu stellen? Oder braucht es eine Doppelspitze aus Sportvorstand und Sportdirektor, wie es angeblich auch Heidel vorschwebte, als er sich mit Boldt bereits im Winter traf? Dann könnte der häufig in der Schalker Arena als Gast weilende Klaus Allofs ins Gespräch kommen, den es zurück ins Rampenlicht zieht. Den eloquenten Repräsentanten Allofs, 62, gemeinsam mit dem fleißigen Kaderplaner Boldt - diese Doppelspitze ergäbe Sinn.
Von einem ähnlichen Plan berichtete am Montag die Bild: Demnach soll Boldt, der ausdrücklich hinterlegt hat, nicht als erster Mann arbeiten zu wollen, zusammen mit Michael Reschke ein Duo bilden. Der 61-Jährige hat zwar durch seinen Rauswurf beim VfB Stuttgart einige Schrammen abbekommen, hat aber mit Boldt bestens in Leverkusen zusammengearbeitet. Auch ist Reschkes Netzwerk nicht zu unterschätzen. Nur: Bei der Werkself konnte sich das Tandem im Windschatten von Rudi Völler in einem ruhigen Umfeld entfalten. Fraglich, ob das in ähnlicher Form auf Schalke funktionieren würde. Sport1 berichtet daher nun, Boldt könne sich durchaus ein Engagement als Sportvorstand vorstellen.
Solche Grundsatzfragen bedürfen am Berger Feld einer raschen Entscheidung, denn im Frühjahr werden vielerorts die Planungen für die kommende Saison festgezurrt.
Tönnies hat angekündigt, "zügig, aber nicht übereilt" die Nachfolge zu regeln. Jeder Tag unnötige Verzögerung tut Schalke weh. Der Rivale Borussia Dortmund kann im Buhlen um Perspektivspieler wie Maximilian Eggestein (Werder Bremen) oder Philipp Max (FC Augsburg) mit ganz anderen Argumenten wuchern.
Schalke-Kader hinkt Erwartungen hinterher
Heidel hat sich in den Hintergrund verzogen. Er bietet zwar an, bis Saisonende mit "Rat und Tat" zur Seite zu stehen - aber braucht Schalke ihn wirklich noch? Ihm wird schließlich die verfehlte Personalplanung angelastet. Bei einem Minus von rund 43 Millionen Euro in sechs Transferperioden - Einnahmen von knapp 111 Millionen Euro standen Ausgaben von 154 Millionen gegenüber - hat der Manager die Mannschaft nicht besser, sondern schlechter gemacht.
Die Marktwerte vermeintlicher Leistungsträger sind teilweise signifikant abgestürzt. Hoch eingeschätzte (und bestens bezahlte) Spieler wie der orientierungslose Abwehrchef Salif Sane, der schwache Omar Mascarell, der blasse Sebastian Rudy oder der vollkommen ungefährliche Mark Uth sind nur noch Mitläufer. "Im Sommer hieß es noch, wir haben den besten Abwehr- und Mittelfeldspieler und Angreifer geholt", erinnert sich Heidel.
Eine wirkliche Erklärung, warum dieser Kader in seiner Zusammenstellung und Grundausrichtung fremdelt, fällt auch ihm nicht ein. Ewig nur die Verletzungsmisere im Sturm ("in Mainz haben vorne nachher ein U19- und U23-Spieler aushelfen müssen") anzuführen, wirkt zu billig. Vielmehr scheint Domenico Tedesco ein Gutteil dafür verantwortlich zu sein, dass Schalke keine Spielidee vorweisen kann. Vor allem die Offensive funktioniert unter dem Trainer Tedesco nach dem Zufallsprinzip.
In der Vorsaison mit der Vizemeisterschaft übertünchte die hohe Körperlichkeit und die defensive Kompaktheit diese Schwäche, nun aber wirkt der 33-Jährige zunehmend ratlos. Heidel aber hat den Deutsch-Italiener damals in Aue entdeckt und hält ihn für "einen überragenden Trainer" - und womöglich hat er ihm eine Entwicklung wie einst dem mitten in der Karnevalszeit vom Spieler zum Trainer beförderten Jürgen Klopp oder den plötzlich von den A-Junioren zu den Profis hochgezogenen Thomas Tuchel zugetraut.
FC Schalke 04 mit schlechtester Bilanz seit 36 Jahren
Diese Entdeckungen belegen, wie viel sich Heidel in Mainz trauen durfte. Dagegen stehen jedoch auch eine Reihe von Fußballlehrern, die nicht funktionierten. Zeitweise galt der darbende Zweitligist FSV Mainz 05, der in Heidels Anfangszeiten vor ein paar Tausend Zuschauern im alten Bruchwegstadion kickte, als größter Durchlauferhitzer im deutschen Profifußball. Bevor Klopp 2001 kam, hatten sich in gerade anderthalb Jahren fünf verschiedene Übungsleiter versucht. Von Wolfgang Frank über Rene Vandereycken bis hin zu Eckhard Krautzun. Und als Tuchel ging, war Heidels Verpflichtung des Dänen Kasper Hjulmand ein Fehlschlag.
Heidel hat zuletzt angedeutet, dass das Schalker Aufgebot, obwohl es vom Lizenzspielerbudget im vorderen Drittel liegt, nicht für einen Spitzenplatz gemacht ist. "Letztes Jahr hat alles gepasst. Daraus kann aber nicht der Anspruch entstehen, wir müssen jedes Jahr Champions League spielen." Aber besserer Fußball als aktuell sollte es schon sein. Im Achtelfinal-Rückspiel der Königsklasse bei Manchester City geht es im Grunde nur noch um Schadensbegrenzung. Die Bundesliga scheint nach 23 Spieltagen mit mickrigen 23 Punkten - die schlechteste Bilanz seit 36 Jahren - weitgehend gelaufen. Bleibt als Rettungsanker noch der DFB-Pokal, wo Schalke am 3. April ein Heimspiel gegen Werder Bremen bestreitet.
Schalkes Fans stimmten bereits in Mainz Pokal-Gesänge an, ehe ihnen der blutleere Auftritt am vergangenen Samstag die Sprache verschug. Wer nicht vorzeitig vom Ort des Schreckens geflüchtet war, machte seinem Unmut Luft und beschimpfte hernach Spieler und Trainer, die sich nur vorsichtig in Richtung Gäste-Kurve trauten. Bierbecher flogen, Mittelfinger gingen in die Höhe. Zudem intonierte der Anhang: "Außer Nübel (Torwart Alexander Nübel, Anm. d. Red.) könnt ihr alle gehen!"
"Ich kann die Reaktion der Fans zu 100 Prozent nachvollziehen", sagte Tedesco danach mit aschfahlem Gesicht. Tönnies und Co. werden im Heimspiel gegen Fortuna Düsseldorf (Samstag 15.30 Uhr im LIVETICKER) genau hinsehen. Sollte mit einem weiteren Offenbarungseid wie in Mainz die Stimmung auf den Rängen vollends kippen, könnte Königsblau auch auf der Trainerposition noch Tabula rasa machen.