Corporate Identity. Ein Begriff, der eigentlich in der Unternehmenskommunikation beheimatet ist und das Erscheinungsbild beschreibt, welches ein Unternehmen im Rahmen seiner Public Relations anstrebt, steht sinnbildlich für Ralf Rangnicks Schaffen bei RB Leipzig. Während der Begriff bei vielen Fußball-Traditionalisten für reichlich Magenschmerzen sorgen dürfte, ist die Coporate Identity für Rangnick Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Fußballklub.
"Jede erfolgreiche Firma - und ein Fußballverein im Profibereich ist nichts anderes - sollte eine Corporate Identity haben", sagte der neue Cheftrainer und Sportdirektor in Personalunion anno 2016 im Interview mit SPOX. Daraus bilde sich ein Coporate Behaviour, "das die Zusammenarbeit und den Umgang untereinander sowie die Auswahl von Personal kennzeichnet", so Rangnick.
Nun wählte Rangnick jedoch den umgekehrten Weg: Die Auswahl von Personal soll die Coporate Identity wieder geraderücken. Wer, wenn nicht er selbst, der Baumeister des Erfolgs bei RB Leipzig, könnte der Mannschaft wieder das einimpfen, was ihr in der vergangenen Saison augenscheinlich unter Ralph Hasenhüttl abhandengekommen war. "Wir wollen unseren Fußball wieder zu 100 Prozent auf den Platz bringen", sagte Rangnick am Montag während der Bekanntgabe seiner neuen Funktion.
Rangnick und das Zerwürfnis mit Hasenhüttl: System sticht "Glücksfall"
Der kleine Seitenhieb auf Hasenhüttl bezeugt das, was nach Rangnicks Ansicht in der vergangenen Saison bei RB Leipzig schiefgelaufen ist. Rangnick strahlt die Haltung aus, dass sich ein Trainer in Diensten von RB Leipzig der Philosophie des Vereins, also Rangnicks Philosophie, unterzuordnen habe. Das System RB Leipzig beruht seit Jahren auf dem aggressiven Anlaufen des Gegners, dem Gegenpressing als Angriffsmittel und Hochgeschwindigkeit in den Umschaltmomenten nach Balleroberungen.
"Im Fußball geht es nicht nur darum, Lösungen bei Ballbesitz zu vermitteln, sondern vor allem um die Vermittlung eines synchronisierten Matchplans bei Ballbesitz des Gegners", sagt Rangnick, wenn er über die vielleicht größte Glaubensfrage im modernen Fußball spricht. Ist Ballbesitz das Wichtigste? Rangnick würde die Frage mit einem klaren Nein beantworten, schließlich sei es statistisch erwiesen, "dass man ab 15 Sekunden durchschnittlicher Ballbesitzzeit fast keine Chance mehr auf ein herausgespieltes Tor" habe.
Hasenhüttl war in der ersten Bundesligasaison des Klubs sein "Glücksfall" und Vollstrecker dieser Philosophie. Der Mann, der die Corporate Identity mit dem Team auf dem Platz umsetzte und das deutsche Fußballoberhaus als Aufsteiger in Grund und Boden lief und konterte. Der "Außenseiterfußball" machte Leipzig zum Vizemeister und Champions-League-Teilnehmer. Damit änderte sich allerdings das Standing von RB Leipzig in der Bundesliga und gleichzeitig auch die Belastung der Spieler.
Leipzig quälte sich in der abgelaufenen Spielzeit als Tabellensechster, auf dem Zahnfleisch kriechend, in die Europa League. Vom Hurra-Fußball der Vizemeister-Saison war nur selten etwas zu sehen. Hasenhüttl führte oftmals als Begründung die Doppelbelastung aus Bundesliga und dem europäischen Wettbewerb, gepaart mit der mangelnden Breite des Kaders ins Feld. Aus personellen Notständen resultierten nicht selten Systemwechsel und eine ballbesitzorientierte Spielweise.
Die zentralen Bestandteile des Leipziger Spiels, dem Gegner Zeit und Raum zu nehmen und durch schnelle und aggressive Balleroberungen in Umschaltmomente zu kommen, kamen nicht mehr zu Geltung. Auch und besonders, weil Leipzigs Gegner ihrerseits gegen den Vizemeister auf den Außenseiterfußball setzten, der Leipzig so erfolgreich machte.
Leipzig hatte im Vergleich zur ersten Hasenhüttl-Saison wesentlich öfter den Ball, führte dafür aber knapp 2300 Zweikämpfe weniger. Für Rangnick - und das legen die Aussagen vom Montag sehr nahe - war die Abkehr von der RB-DNA die Ursache allen Übels, sofern man ein Europa-League-Viertelfinale und einen sechsten Tabellenplatz als Übel bezeichnen möchte.
Rangnick als Trainer von RB Leipzig: Gefahr der eigenen Philosophie
Die Tatsache aber, dass das Gros der Bundesligisten RB Leipzig auch in der kommenden Saison den Ball überlassen wird, stellt die Belastbarkeit von Rangnicks Spielphilosophie auf die Probe, wenn Leipzig als Favorit in fast jedes Liga- oder Pokalspiel geht. Für diese Gegner brauche es ebenfalls "gewisse Prinzipien, die sich umgekehrt dann wiederum auch positiv auf unser Gegenpressing auswirken", sagte Rangnick.
Die Marschrichtung ist dennoch klar: RB soll zurück zum Hochgeschwindigkeitsfußball, zu Rangnicks Idee von Fußball finden. Zwar wolle man "was die Grundordnung betrifft, einiges Neues ins Portfolio nehmen" und taktisch auf eine Dreierkette zurückgreifen, doch die WM habe nochmal gezeigt: "Ohne Tempo, ohne Tiefgang, ohne Hochschalten in den fünften, sechsten, siebten Gang, ohne in den Rücken der Abwehr zu kommen, gewinnst du heute noch nicht einmal gegen Panama oder Südkorea."
Für ihn haben "sich Mannschaften bei der WM verabschiedet, die glauben, dass allein Ballbesitz das Glückseligste ist. Es haben sich einige am Ballbesitz so ergötzt, dass sie erst dann gemerkt haben, oh, wir haben ja gar kein Tor geschossen, als das Spiel zu Ende war."
RB Leipzig: Alle Trainer seit der Gründung
Zeitraum | Trainer |
01.07.2016 - 30.06.2018 | Ralph Hasenhüttl |
01.07.2015 - 30.06.2016 | Ralf Rangnick |
11.02.2015 - 30.06.2015 | Achim Beierlorzer |
01.07.2012 - 10.02.2015 | Alexander Zorniger |
01.07.2011 - 30.06.2012 | Peter Pacult |
01.07.2010 - 30.06.2011 | Tomas Oral |
01.07.2009 - 30.06.2010 | Tino Vogel |
RB Leipzig unter Trainer Ralf Rangnick: (K)ein Übergangsjahr
Rangnick ist sich der Gefahr der eigenen Philosophie und des hochgradig kräftezehrenden Spielstils bewusst. Mit Nordi Mukiele (16 Millionen Euro), Matheus Cunha (15 Millionen Euro) und Marcelo Saracchi (12 Millionen Euro) hat Leipzig den Kader im Sommer mit weiteren "hochtalentierten" (Rangnick) Spielern verstärkt.
Die Tatsache, dass keiner der drei Neuzugänge über 20 Jahre alt ist und alle mit langfristigen Verträgen ausgestattet wurden, ist ebenfalls Ausdruck von Rangnicks vielbeschworener Corporate Identity. Bei RB Leipzig wird kein Spieler verpflichtet, der älter ist als 24. Jene Identität ist für Rangnick bedingungslos.
In seiner Funktion als Sportdirektor will er dem Vernehmen nach noch drei weitere Neuzugänge verpflichten, unter anderem Ademola Lookman. Abgeben wolle man niemanden mehr, "aber das heißt nicht, dass es so kommt", so Rangnick, der damit Spekulationen um einen Abgang von Emil Forsberg wieder Tür und Tor öffnete.
Von einem "Übergangsjahr" will man in Leipzig indes nichts wissen und einfach "den erfolgreichen Weg forstsetzen." Rangnick sei dafür die "sinnvollste Entscheidung", sagte RB-Vorstandschef Oliver Mintzlaff und trifft den Nagel damit auf den Kopf. Unter Rangnick soll der Spagat zwischen kurzfristigem Erfolg und dem eigenen Anspruch "noch lieber Champions League als Europa League" zu spielen (Rangnick), gelingen. Schon allein deswegen, um Julian Nagelsmann nicht ohne internationales Geschäft zu empfangen.
Sollte sich abzeichnen, dass dieses Ziel verpasst werden könnte, hat der Sportdirektor Rangnick immer noch die Möglichkeit, den Trainer Rangnick zu ersetzen. Mit Jesse Marsch hat Leipzig einen "perspektivischen Cheftrainer" als Co-Trainer vom Schwesterklub New York Red Bulls verpflichtet. Die Corporate Identity ist also auch in diesem unwahrscheinlichen Szenario nicht in Gefahr.