Die Fußballsprache ist mittlerweile voll von Begriffen, die in gewissen Kreisen zur Standardsprache gehören, aber mit denen Traditionalisten nur wenig anfangen können. Abkippende Sechser oder schwimmende Neuner sind da nur Auszüge.
Beim Torwart ist das Vokabular bisher noch überschaubar. Ein mitspielender Torwart wurde bisher bestenfalls als Antizipationstorhüter bezeichnet, im Allgemeinen konnte man sich aber auf das einfache Adjektiv modern einigen.
An die falsche Eins hat sich bisher noch keiner herangetraut, die Begrifflichkeiten blieben selbst dann überschaubar, als Manuel Neuer im Laufe der letzten Jahre das Torwartspiel revolutionierte und der Weltöffentlichkeit seine herausragenden Fähigkeiten komprimiert im WM-Achtelfinale gegen Algerien (2:1) offenbarte.
Pollersbeck als Mittelmann einer Dreierkette
"Manu, der Libero" war eine gern gewählte Oldschool-Überschrift, schließlich war Neuer in diesem Spiel vor allem zum Abfangen gegnerischer Angriffe in der eigenen Hälfte unterwegs. 19 Ballaktionen außerhalb des Strafraums zählten die Statistiker anschließend.
Aber Neuer hat wie Barcelonas Marc-Andre ter Stegen große Qualitäten im Spiel mit dem Fuß. Beide Keeper sind stark ins Aufbauspiel ihrer Mannschaft eingebunden. So extrem wie Julian Pollersbeck seine Rolle am Samstag im Heimspiel gegen Hertha BSC ausfüllte, interpretierte aber vor ihm noch kein Torhüter in der Bundesliga seine Position.
Dass sich ein Mittelfeldspieler zwischen Innenverteidiger fallen lässt und von dort das Spiel aus einer Dreierkette eröffnet, ist mittlerweile Standard. Dass die Dreierkette aber vom Torhüter komplettiert wird, ist dagegen außergewöhnlich.
Pollersbeck mit 83 Ballaktionen gegen Hertha
Satte 36 (22 in Halbzeit eins, 14 in Halbzeit zwei) Ballaktionen außerhalb des Strafraums sammelte Pollersbeck gegen die Hertha - also knapp doppelt so viele wie Neuer gegen Algerien. Darunter aber keine klärende Aktion und kein abgelaufener Ball.
Pollersbeck rückte soweit nach vorne, um sich am Spielaufbau seiner Mannschaft zu beteiligen. Am Ende hatte der Torhüter nach Rick van Drongelen (95), Douglas Santos (86) und Matti Steinmann (84) mit 83 Ballaktionen die viertmeisten aller Spieler auf dem Platz. Mehr hatte als Torhüter zuletzt Roman Bürki (86) am 27. September 2014 bei Freiburg gegen Leverkusen.
In der ersten Halbzeit schien die Hertha von diesem unkonventionellen Vorgehen ziemlich überrascht zu sein, die Berliner wussten sich nicht so recht zu verhalten gegen Hamburgs Dreierkette im Aufbauspiel. Pollersbeck konnte die Bälle in der Nähe des Mittelkreises ungestört nach rechts und links verteilen.
Nach dem Seitenwechsel unterbanden die Berliner diese Spielweise, setzten die Hamburger früher sowie aggressiver unter Druck und ließen Pollersbeck erst in der Schlussphase wieder aus seinem Strafraum.
Pollersbeck auch auf der Linie stark
Es wird spannend zu beobachten sein, ob Trainer Christian Titz diese Variante auch in den kommenden Spielen auf den Platz bringen wird und wie die Gegner auf den mitspielenden Pollersbeck reagieren.
Klar ist nämlich auch, dass die Positionierung des eigenen Torhüters 40 Meter vor dem eigenen Kasten ein hohes Risiko birgt. Auch gegen Hertha musste Pollersbeck mehrmals den schnellen Rückzug antreten, als seine Mannschaft Gefahr lief, den Ball zu verlieren.
Dass aber nicht nur seine fußballerischen Fähigkeiten für den 23-Jährigen im Vergleich mit Christian Mathenia sprechen, zeigte Pollersbeck mit starken Paraden gegen Vladimir Darida, Vedad Ibisevic und Valentino Lazaro. Nach 90 Minuten kam er auf sieben abgewehrte Schüsse.
Der moderne Torhüter Pollersbeck beherrscht also auch das klassische Handwerk.