Die Begeisterung kannte keine Grenzen. Der verlorene Sohn kehrte endlich nach Hause. Ein ganzer Tag, eine ganze Woche stand unter dem Motto: Shinji is back!
Was Shinji Okazaki Ende August dachte, als sein Name bundesweit durch die Medien ging, ist nicht bekannt. Vielleicht dürfte es ihm aber gar nicht so unrecht gewesen sein, in Zukunft nicht mehr der bekannteste Shinji der Liga zu sein.
Dabei muss sich Okazaki sportlich gesehen derzeit kaum vor seinem Namensvetter aus Dortmund verstecken. Der quirlige Asiate, der immer ein schüchternes Lächeln auf den Lippen trägt, ist in Mainz nicht nur wegen seiner bislang fünf Saisonstore unersetzlich geworden.
Unlängst kürte er sich sogar zum abschlussstärksten Japaner der Bundesliga-Geschichte. Yasuhiko Okudera, der den Rekord mit 26 Treffern für den 1. FC Köln zuvor gehalten hatte, wird in Japan heute als Volksheld verehrt. Mit ihm will sich Okazaki selbst aber nicht vergleichen lassen, zu groß ist der Respekt vor der Pionierarbeit, die Okudera für den japanischen Fußball in Europa leistete.
Medien: Premier League jagt Okazaki
"Schwierige Zeit in Stuttgart"
Dennoch ist der Rekord für Okazaki ein Stück weit Genugtuung, nachdem ihm während seiner Zeit beim VfB mangelndes Durchsetzungsvermögen vorgehalten wurde. "Er ist für mich nur insofern etwas Besonderes, weil ich vorher eine schwierige Zeit in Stuttgart hatte", so der Stürmer.
Diese lässt sich am einfachsten in Zahlen dokumentieren, wenngleich viel mehr dahinter steckt: In drei Jahren und 63 Bundesligaspielen beim VfB zeichnete sich Okazaki für zehn Tore verantwortlich. In Mainz waren es in 39 Spielen derer 20.
Gegenüber der "Sport Bild" erklärte Okazaki den wesentlichen Unterschied auf dem Rasen: "In Mainz stehe ich in jedem Spiel in der Startelf, bleibe 90 Minuten lang auf dem Platz. Das war in Stuttgart nicht der Fall. Wenn ich spielen durfte, war ich nie der einzige Angreifer. Ich konnte nie ganz vorne in der Spitze sein, habe eher dahinter agiert."
Das führte dazu, dass er sich beim VfB nicht gänzlich verstanden fühlte: "Ich bin eigentlich als Stürmer nach Stuttgart gekommen, bin dort aber meist im Mittelfeld eingesetzt worden. Am Ende war ich mir selbst nicht mehr sicher, wo ich hingehöre", offenbarte der Mainzer seine Verunsicherung beim VfB.
Geborener Torjäger
Eine wiederkehrende Vokabel war im Fall Okazaki daher immer das (Selbst-)"Vertrauen". In Mainz erfährt er davon eine Menge. Okazaki agiert an vorderster Front, hat viele Freiräume in der Offensive und hält sich oft im Strafraum des Gegners auf. Er ist kein Flügelstürmer oder Spielmacher, sein Gefährlichkeitsradius liegt binnen 20 Meter vor dem gegnerischen Tor.
Sich selbst sieht er deshalb auch als zentrale Spitze: "In Mainz bin ich der einzige Stürmer. Ich kann mich bewegen und hingehen, wie und wohin ich möchte. Und da kommt der Ball dann auch meistens hin."
Dabei ist Okazaki von seiner körperlichen Veranlagung kein klassischer Mittelstürmer. Mit seinem eher schmächtigen Körperbau und 1,74 Meter Größe ist er nicht vergleichbar mit den Lewandowskis, Kießlings oder Lasoggas der Liga. Umso wichtiger ist sein Torriecher, die Fähigkeit, zur rechten Zeit am rechten Ort zu stehen.
Diesen hat er in Mainz wiederentdeckt. "Es klingt vielleicht übertrieben, aber da bin ich als Stürmer wiedergeboren worden. Ich habe gemerkt: Hey, du kannst deinen Job ja doch", freute sich der Asiate im "Spiegel"-Interview.
Sozialisierung nach Kulturschock
Hinzu kommt, dass Okazaki einige Zeit brauchte, sich in Deutschland zurechtzufinden. In seiner zweiten Saison beim VfB gestand er im SPOX-Interview, einen Kulturschock erlitten zu haben. Die Sprache, der ruhigere Lebensstil, Alkohol - der Japaner wusste anfangs gar nicht so recht, wie ihm geschah.
"Irgendwie können die Deutschen viel besser relaxen als die Japaner. Hier geht es nicht nur um Arbeit, sondern auch um das Genießen der Freizeit. Am Anfang fand ich das ungewöhnlich", schilderte der damalige VfB-Stürmer.
Während sich Okazaki neben dem Platz nach und nach sozialisierte, hatte er auch mit der robusteren Spielweise in der Bundesliga zu kämpfen. Schnell stellte er fest, dass der Fußball in Deutschland schneller und härter ist als in der japanischen J-League. Die Spieler verfügen über eine andere Physis, die Zweikämpfe sind intensiver. "Es hat einige Zeit gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte", erklärt der Stürmer.
Wechsel nach Mainz als "Glücksfall"
Diese Zeit hatte man beim VfB nicht. Die hohe Erwartungshaltung und der ständige Druck machten dem Japaner zu schaffen. Von den Medien und auch von den Vereinsverantwortlichen wurde er an Toren gemessen. Blieben diese aus, hatte Okazaki einen schweren Stand.
Schlussendlich zählte das Ergebnis. "Manchmal mache ich ein richtig gutes Spiel, schieße nur leider kein Tor. Trotzdem geben mir die Journalisten hinterher eine Fünf oder eine Sechs. Wenn ich mich in Japan gut bewege, bekomme ich dafür Anerkennung." Anerkennung findet er in Mainz zur Genüge. Der FSV ist einer der wenigen Bundesligavereine, in denen Ruhe und Gelassenheit noch fest im Profi-Alltag verankert sind.
Entsprechend unaufgeregt reagieren Fans und Verantwortliche, wenn ihr japanischer Erfolgsgarant einmal nicht trifft. Das war unter seinem Förderer Thomas Tuchel so und wird sich auch mit Kasper Hjulmand nicht ändern. Der Stürmer weiß das zu schätzen, bezeichnet den Wechsel zu den 05ern als "Glücksfall".
Der "Star" beim FSV
Bei aller Zurückhaltung und Bescheidenheit genießt Okazaki sein Standing beim FSV in vollen Zügen. Auch wenn er sich selbst nie als einen solchen bezeichnen würde, spielt er die Rolle des "Stars" beim FSV nicht schlecht.
Man merkt dem Japaner förmlich an, dass er zurzeit auf einer Euphoriewelle schwimmt, seine Torquote lässt daran keine Zweifel. Die ist für den FSV aber auch überlebenswichtig. Gerade mit dem Abgang der Stammspieler Nicolai Müller und Eric Maxim Choupo-Moting ging ein Großteil der Mainzer Torgefahr verloren. Sie ist nun hauptsächlich auf Okazaki geschultert.
Mit dieser Aufgabe findet sich der kleine Torjäger aber gut zurecht. Zwischen dem Druck, den er beim VfB verspürte, und dem, der ihm in Mainz durch die Personalsituation zwangsläufig anhaftet, scheint es schlichtweg diesen einen entscheidenden Unterschied zu geben, der auch aus einem Glückskeks stammen könnte: das "Vertrauen" in ihn.
Shinji Okazaki im Steckbrief