SPOX: Herr Russ, Sie haben bis zum Abstieg 2011 15 Jahre am Stück in Frankfurt gespielt. Dann gingen Sie nach Wolfsburg. Wie wichtig war es Ihnen damals, einfach auch mal aus dem gewohnten Umfeld heraus zu kommen?
Marco Russ: Das spielte sicherlich mit hinein. Es war einfach an der Zeit, auch mal etwas anderes auszuprobieren. Das hatte wirklich nichts mit dem Abstieg zu tun. Ich habe meine Entscheidung, nach der Saison wechseln zu wollen, schon deutlich früher getroffen.
SPOX: Wie kam diese Entscheidung in Ihnen auf?
Russ: Ich wollte auch mal international spielen. Bei einem Verein wie Wolfsburg bestand die Möglichkeit, sich für Europa zu qualifizieren. Das war in Frankfurt zu diesem Zeitpunkt anders. Ich wollte das eben einfach mal versuchen, weil es mich gereizt hat.
SPOX: Wie haben Sie sich in der ungewohnten Umgebung zu Recht gefunden?
Russ: Es half mir, dass ich Marcel Schäfer und Patrick Ochs schon etwas länger kannte. Die haben mir gerade in der Anfangszeit die private Eingewöhnung erleichtert. Die Stadt Wolfsburg ist natürlich in keiner Weise mit Frankfurt zu vergleichen. Dort geht es viel ruhiger zu, es ist sehr ländlich. Dennoch fanden wir mit unseren Kindern nach und nach einige Ecken und Plätze, an denen man sich wohlfühlen konnte.
SPOX: Sie haben nach Ihrem Wechsel durchblicken lassen, dass der Konditionszustand der Eintracht im Abstiegsjahr nicht der beste gewesen sei. Und dann kam Felix Magath.
Russ: Bei Felix Magath habe ich im körperlichen Bereich neue Dimensionen kennen gelernt. Das hat mir auch enorm geholfen.
SPOX: Wie würden Sie den Trainer Magath beschreiben?
Russ: Felix Magath ist noch einer der alten Schule. Er legt sehr viel Wert auf die reine körperliche Arbeit. Wir haben häufig Kraft gebolzt, sind viel gelaufen und haben intensive Zweikämpfe geführt. Er hat den Druck während der Trainingswoche auf jeden einzelnen Spieler immer ziemlich hoch gehalten. Man konnte sich nie sicher sein zu spielen. Hätte man in zehn Spielen zehn Tore geschossen und dann aber nicht so trainiert, wie er sich das vorstellt, dann war man einfach raus. So erging es einmal Mario Mandzukic, der plötzlich nicht mehr im Kader stand.
SPOX: Wie intensiv waren denn die taktischen Schulungen unter Magath?
Russ: Das war bei ihm oder auch bei Armin Veh nicht so ausgeprägt. Deren Prioritäten lagen in anderen Bereichen. Unser neuer Trainer Thomas Schaaf ist bei mannschaftstaktischen Abläufen dagegen sehr penibel. Er will, dass alle Einzelheiten bei jedem Spieler sitzen, daher trainieren wir das auch ständig. Diese Unterschiede sind aber normal, denn jeder Coach hat eine unterschiedliche Herangehensweise.
SPOX: In Wolfsburg waren Sie zunächst Stammspieler, doch in der zweiten Saison gab es einen Bruch: Sie wurden zu den Amateuren geschickt. Was hatte sich denn zwischen der ersten und zweiten Spielzeit verändert, dass Sie auf einmal vollkommen außen vor waren?
Russ: Eine wirkliche Aussprache mit Felix Magath gab es leider nie. Er hatte mir zum damaligen Zeitpunkt nur gesagt, dass er meine Qualitäten als Spieler nicht mehr gebrauchen könne. Meine Vorbereitung auf die Saison sei nicht so verlaufen, wie er sich das gewünscht hätte.
SPOX: Sie sind bei den Amateuren nicht zum Einsatz gekommen. Wie sah denn Ihr Alltag dann aus?
Russ: Ich habe trainiert und trainiert und trainiert - die gesamte Woche über (lacht). Das war sozusagen das einzige, was mir übrig geblieben ist. Ich war auch nicht allein, damals wurden ja mehrere Profis nach unten durchgereicht. Wir haben ein ordentliches Programm abgespult. Aber die Spiele fehlten natürlich.
SPOX: Eine solche Phase kannten Sie noch nicht. Wie sehr hingen Sie durch?
Russ: Mir fehlte die Motivation, mal mehr und mal weniger. Das fiel mir ganz und gar nicht leicht. Ich fühlte mich fehl am Platz und nicht gebraucht. Unter dem Strich kam das Angebot in dieser Phase genau richtig, so dass ich wieder nach Frankfurt zurückgekehrt bin. Armin Veh wollte mich unbedingt haben. Es war eine tolle Bestätigung für mich, nicht in Vergessenheit geraten zu sein.
SPOX: Wie sehr hat sich Ihre damalige Gemütslage in den eigenen vier Wänden eingenistet?
Russ: Das Privatleben hat gelitten, ganz klar. Ich war nicht besonders gut drauf und habe mich dementsprechend verhalten. Das hat sich dann eben auch auf meine Familie übertragen. Ich habe in dieser Zeit lernen müssen, dass der Fußball nicht das Wichtigste im Leben ist - und die Familie immer Vorrang haben sollte.
SPOX: Wie hat Ihre Frau reagiert? Sie wusste ja, dass Sie angefressen sind und wohl etwas vorsichtiger angefasst werden müssen.
Russ: Für sie war es fast noch schwieriger als für mich. Ich war deprimiert und wusste nicht, wohin mit meinem Frust. Sie konnte allerdings gut einschätzen, dass das nun eben eine Phase ist, die auch wieder vergeht. So lange ging das alles ja zum Glück nicht.
SPOX: Welchen Einfluss hatte diese Zeit auf Ihre Persönlichkeit, haben Sie da eine Art Wandlung bei sich wahrgenommen?
Russ: Auf jeden Fall. Es gibt doch diesen Satz: Fußball ist ein schnelllebiges Geschäft. Wenn man diese Schnelllebigkeit aber nie am eigenen Leibe erfährt, ist es schwer, das richtig einzuordnen. Ich wurde vom Stammspieler zum Aussortierten und dann in Frankfurt wieder zum Stammspieler - da habe ich gemerkt, wie verrückt es in dieser Branche zugehen kann. Seitdem genieße ich in sportlicher Hinsicht jeden Tag, den ich als Teil eines Teams verbringe. Ich habe meinen Beruf noch mehr zu schätzen gelernt, weil ich eben gesehen habe, wie schnell so etwas auch in die ganz falsche Richtung laufen kann.
SPOX: Sie spielen jetzt seit bald zwei Jahren wieder bei der SGE. Hat sich durch die Wolfsburg-Erfahrung die Beziehung zu Ihrer Frankfurter Heimat verändert?
Russ: Das würde ich nicht sagen. Ich habe Frankfurt vermisst, ganz unabhängig von meiner sportlichen Situation in Wolfsburg. Ich bin ja dort groß geworden. Aber ich denke, dass ich meine Heimat noch bewusster schätzen gelernt habe.
SPOX: Ihre Rückkehr wurde von der Frankfurter Anhängerschaft recht kritisch gesehen. Einige Fans warfen Ihnen vor, die Eintracht nach dem Abstieg 2011 im Stich gelassen zu haben. Haben Sie diese Reaktion damals nachvollziehen können?
Russ: Natürlich, das habe ich auch von Beginn an so geäußert. Ich habe nichts unternommen, um da irgendwie entgegen zu steuern. Letztlich ist es doch so: Es gab Fans, die es gut fanden, dass ich wiederkomme. Und es gab welche, die das nicht so gut fanden. Jeder hat seine Meinung und darf diese äußern. Als Spieler bleibt dir in solchen Situationen nichts anderes übrig, als die Kritiker mit guten Leistungen zum Umdenken zu bewegen.
SPOX: Das gelang ziemlich zügig, allerdings nach einem Jahr ohne Pflichtspiel plötzlich im defensiven Mittelfeld. Wie schwierig war es für Sie, auf einmal auch Gegenspieler in Ihrem Rücken zu haben und Angriffe einleiten zu müssen?
Russ: Das war eine große Umstellung. Auf dieser Position muss man im Vergleich zur Innenverteidigung ein ganz anderes Spielverständnis mitbringen. Als Innenverteidiger hat man Spiel und Gegner vor sich, das ist schon etwas einfacher. Im Mittelfeld kommen die Gegner dagegen von überall her auf dich zu, so dass der Ball viel schneller angenommen und abgespielt werden muss. Die Spielgeschwindigkeit ist da eine ganz andere. Armin Veh hat mir das wirklich gut beigebracht, so dass ich damit aktuell gar keine Probleme mehr habe.
SPOX: Im gewohnten Umfeld läuft es seitdem hervorragend für Sie. Heißt das, dass Sie nur bei der Eintracht funktionieren?
Russ: Schwer zu sagen. In Wolfsburg hat es zumindest anfangs ja auch wie bei der Eintracht geklappt und ich bin auf meine Spiele gekommen. Vielleicht ist es aber wirklich so, dass man nur bei einem bestimmten Verein richtig aufblüht.
Marco Russ im Steckbrief