Jede Mannschaft auf diesem Planeten hat einen Spielstil, der sich von anderen Teams unterscheidet. Jeder Trainer eine andere Philosophie. Und dennoch gibt es selbst im Fußball Regeln, die fast überall und für jedermann gelten. Dribble nicht im eigenen Strafraum wäre so eine. Oder auch: Spiele einen Angriff in Überzahl nicht alleine aus.
Timo Werner scheint von diesen Grundfesten des Fußballs nicht allzu viel zu halten. In der Bundesliga-Partie zwischen dem SC Freiburg und dem VfB Stuttgart erkämpft sich der 17-Jährige in einem Laufduell gegen gleich zwei Freiburger den Ball und steht plötzlich völlig frei vor dem Freiburger Schlussmann Oliver Baumann.
Parallel zu ihm läuft Vedad Ibisevic, der Mann, der es gewohnt ist, in der Stuttgarter Offensive bedient zu werden. Ein Querpass genügt, Ibisevic würde seinen neunten Saisontreffer erzielen und Stuttgart könnte durch das 3:1 den Sack gegen Freiburg endgültig zumachen. Doch Werner schließt selbst ab, befördert den Ball gekonnt an Baumann vorbei in die Maschen des Freiburger Tores. Ibisevic wirkt so überrascht von der Entscheidung seines Mitspielers, dass er sich im ersten Moment gar nicht mitfreuen kann.
"Das hätte ich mich nie getraut"
Es ist eine dieser typischen Situationen, die einen Spieler zum Helden oder Deppen werden lassen. "Wenn er das Tor nicht macht, bekommt er von Vedo was zu hören", erklärt sein Trainer Thomas Schneider lächelnd nach dem Spiel. Doch Werner macht das Tor und hat somit in den Augen der Stuttgarter Anhänger alles richtig gemacht. Er ist an diesem Abend nicht nur der Matchwinner für seinen VfB, sondern krönt sich auch noch zum jüngsten Doppelpacker in der Geschichte der Bundesliga.
Es ist eine Aktion, wie sie typischer kaum sein könnte für den Youngster, der neben seiner Fußballkarriere derzeit auch noch sein Abitur geregelt kriegen muss. Werner ist kein Egoist, auf dem Platz agiert er schlitzohrig und unbekümmert. "Der ist so frech, das hätte ich mich als junger Spieler nie getraut", staunt selbst Lothar Matthäus.
Käme Werner aus ärmlicheren Verhältnissen in Südamerika, würde man ihn wohl als klassischen Straßenfußballer bezeichnen. Eine Umschreibung, die allerdings nicht allzu gut auf einen Spieler passt, der seit seinem vierten Lebensjahr im Fußballverein aktiv ist und abseits des Platzes ein völlig anderes Bild abgibt.
Bodenständiger Schüler
Werner geht weiterhin regelmäßig zur Schule, sein Vater muss ihn täglich zum Training des VfB fahren. Autogramme möchte er in seinen Unterrichtspausen nicht geben. "Ich kann mich noch nicht als Profi bezeichnen", sagt er bescheiden, "das ist noch ein weiter Weg." In der Kabine blickt er immer noch zu "den Erwachsenen", wie er seine Teamkollegen nennt, auf, wenn sie von ihren ereignisreichen Karrieren oder auch von ihren großen Häusern oder teuren Autos erzählen. Werner selbst hat kein Auto, sondern nur ein Schülerabo für die Straßenbahn. "Und aus meinem Kinderzimmer gibt es auch nichts Interessantes zu berichten", fügt er lachend hinzu.
Auf dem Feld ist Werner mittlerweile trotzdem ein wichtiger Bestandteil der VfB-Offensive. Sechsmal stand er in dieser Saison bereits in der Startaufstellung von Trainer Thomas Schneider. Dass er dreimal erst von der Bank ins Spiel kam, war eher seinem Trainingsrückstand durch den Schulstress als einer Formschwäche geschuldet. "Wir wägen das sorgfältig mit seiner Situation in der Schule ab", erklärt Schneider. "Wir jagen ihn nicht von einem Spiel ins andere, sondern bauen ihn vernünftig auf."
Verbesserte Offensive unter Schneider
Seit dem Amtsantritt des neuen Trainers traf der VfB in allen neun Bundesligaspielen. Eine Serie, die in Deutschland einzig und allein die derzeit übermächtigen Bayern toppen können. Auch wenn hinten noch der Schuh drückt, sind die Stuttgarter in der Offensive so variabel wie vielleicht seit der Meistersaison 2007 nicht mehr.
Stürmer Vedad Ibisevic gehört sowohl in der Bundesliga als auch in der WM-Qualifikation zu den vier besten Torjägern. Und obwohl der 29-Jährige so gut trifft wie seit fünf Jahren nicht mehr, ist die Offensive der Schwaben lange nicht mehr so abhängig von den Toren des Bosniers.
Alternativen machen Druck
Einer der Gründe für die neugewonnene Variabilität in der Stuttgarter Offensive ist Alexandru Maxim. Der Rumäne erweckt derzeit den Eindruck, dass er der Kreativposten in der Zentrale sein kann, den Raphael Holzhauser oder auch Tamas Hajnal in den letzten Jahren nie wirklich darstellen konnten. In der laufenden Saison ist der 23-Jährige der beste Vorlagengeber und Standardschütze der Bundesliga. Die Zeiten, in denen Maxim aufgrund seiner mangelnden Fitness auf der Bank Platz nehmen musste, sind vorüber.
Während dem Trainer in der Defensive fast das Personal ausgeht, treffen das Team Formschwächen der Offensivspieler mittlerweile weniger hart. Spieler wie Martin Harnik oder Ibrahima Traore hatten in der Vorsaison noch einen großen Anteil an der Qualifikation zu den Europa-League-Playoffs des VfB und kamen zusammen auf 58 Bundesliga-Spiele von Beginn an. Aufgrund der großen Konkurrenz in der offensiven Dreierreihe finden sich die beiden derzeit allerdings nur noch auf der Bank wieder.
Blick richtet sich nach vorne
Sechs Punkte trennen die Stuttgarter aktuell vom CL-Quali-Platz, derselbe Abstand besteht allerdings auch zu Platz 15 und dem damit verbundenen Abstiegskampf. Trotzdem richtet sich der Blick des Vereins (wie gewohnt) nach oben. "So konstant sind die Mannschaften, die vor uns sind, auch nicht", glaubt Daniel Schwaab, eine der wenigen Konstanten in der Defensive der Schwaben, "deshalb müssen wir schauen, dass wir dran bleiben, die Punkte noch vor der Winterpause machen."
Ein Unterfangen, das für den VfB allerdings alles andere als einfach werden dürfte. Drei der nächsten vier Gegner in der Bundesliga stehen derzeit auf einem Platz im oberen Tabellendrittel. Auch Angstgegner Bayern empfängt Stuttgart noch in der Hinrunde.
Hoffnung auf eine neue Serie
Nach vier sieglosen Partien in Folge soll der Erfolg in Freiburg jetzt allerdings für einen Aufschwung bei Thomas Schneider und seinem Team sorgen. Nach der Länderspielpause will der VfB gegen Gladbach gleich nachlegen und vertraut dabei in erster Linie auf seine starke Offensive.
Viele Fans erhoffen sich bereits weitere Wunderdinge von Timo Werner. Vor allem wünschen sie sich, dass er seine Unbekümmertheit nicht verliert. Der VfB braucht Werners Tore. Und was erklärte der Youngster noch gleich selbst? "Wenn ich zu viel nachdenke, treffe ich weniger."
Timo Werner im Steckbrief