Seinen großen Moment hatte Tomas Rincon, als er bäuchlings durch den Schlamm schlitterte.
Mit einer verzweifelten Grätsche hatte er gerade noch einen Schuss des Schalkers Edu geblockt. Den Abpraller stoppte er nun rudernd und rutschend per Hinterkopf auf der Torlinie, bevor er selbst flach ausgestreckt ins Netz trudelte.
Keine klassische Heldenpose. Doch sie passt zum kleinen Venezolaner im Trikot des Hamburger SV. "Ich bin wohl eher der bissige Kämpfer", lacht Rincon im Gespräch mit SPOX: "Glänzen können die anderen. Ich probiere eben immer, mich voll in den Dienst der Mannschaft zu stellen."Fast zwei Jahre liegt diese Szene nun zurück; sein leidenschaftlicher Dienst für die Mannschaft rettete dem HSV damals immerhin ein Unentschieden. Seither allerdings stand Rincon nur noch selten im Mittelpunkt. Manchmal stand er noch nicht einmal im Kader.
Acht Trainer in drei Jahren
Der Mann, den der ehemalige Sportchef Dietmar Beiersdorfer im Januar 2009 als "kleine Tretmine" ankündigte, wollte in Hamburg nicht so recht zünden.
Die Fußstapfen von Nigel de Jong, der zeitgleich für 18 Millionen Euro zu Manchester City wechselte, waren etliche Nummern zu groß. Die instabile Großwetterlage im Verein hemmte zudem die Entwicklung des damals 21-Jährigen.
"Es gab sehr schwierige Momente, wenn ich manchmal drei, vier Spiele nicht im Kader war. Ich musste mental stark sein", sagt Rincon, der in drei Jahren beim HSV ganze acht verschiedene Trainer hatte.
Zum Durchbruch aber verhalf ihm erst der aktuelle Coach. Seit Thorsten Fink am 10. Spieltag übernahm, hat der defensive Mittelfeldspieler keine Sekunde mehr verpasst. "Tomas ist ein Spieler, der mich überrascht hat. Er hat das Herz am rechten Fleck, ist ein echter Fighter, mit ihm kann ich mich identifizieren", lobt der Trainer.
Und der Spieler gibt das Lob zurück: "Für mich persönlich ist es schön, dass ich jetzt auf meiner Lieblingsposition eingesetzt werde. In den Jahren davor habe ich ja meistens als Rechtsverteidiger gespielt. Fink hat es geschafft, uns wieder Glauben an die eigene Stärke zu geben. Dazu hat er uns im taktischen Bereich weiter gebracht. Er hat uns seine Idee vom Spiel verinnerlicht."
Dreierkette: Die neue taktische Rolle
Und für Finks taktische Idee spielt Rincon eine ganz wesentliche Rolle. Bei Ballbesitz stellt der HSV auf ein 3-5-2-System um. Ein zentraler Mittelfeldspieler sichert dabei die schnellen Aktionen über Außen ab.
"Wenn wir das Spiel aufbauen, lässt sich ein Sechser zwischen die Innenverteidiger zurück fallen, die beiden Außenverteidiger rücken sehr weit nach vorne. Dadurch kann es uns gelingen, im Mittelfeld Überzahlsituationen zu erzeugen. Damit sind wir variabler", erklärt Rincon.
In der Regel übernimmt er selbst diesen Part als zentraler Mann in der Dreierkette. Neben der Absicherung und der aggressiven Balleroberung fällt ihm damit auch eine wichtige Aufgabe im Spielaufbau zu.Mit knapp 80 Ballkontakten pro Partie gehört er mittlerweile zu den Top-Ten der Liga, seine Passquote von über 85 Prozent brachte ihm den Spitznamen "El General" ein.
Rincon: "Schweinsteiger finde ich überragend"
"Diese Sicherheit bekommt man nur über Vertrauen und regelmäßige Einsätze. Ich spüre jetzt auch die Akzeptanz der Mannschaft und mit der Sprache klappt es auch immer besser", sagt Rincon über seine neue Rolle als tiefer gelegter Spielmacher im HSV-System.
Dabei sieht selbst gerade im strategischen Bereich noch seine größten Schwächen: "Dazu braucht man auch eine Menge Erfahrung. Ich kenne kaum einen jungen Spieler, der von sich behaupten kann, schon ein Stratege zu sein. Bastian Schweinsteiger hat auch eine Zeit lang gebraucht, um der Spieler zu werden, der er heute ist. Ihn finde ich überragend. Er vereint wirklich viele Fähigkeiten."
Dass er, wie die gesamte HSV-Mannschaft, eigentlich noch Zeit bräuchte, um sich zu entwickeln, zeigte nicht zuletzt das 1:5-gegen Borussia Dortmund am 18. Spieltag. Dass er aber auch nach harten Schlägen wieder aufstehen kann - das muss Rincon niemandem mehr beweisen.
Die Kraft, nach vorne zu schauen und Verantwortung zu übernehmen, hat er schon als Kind entwickelt. Viel zu früh - und auf einem viel existenzielleren Terrain als dem Fußball. Er musste sie entwickeln, als seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben kam.
Der frühe Schicksalsschlag
"Der Tod meiner Mutter war natürlich ein harter Schlag für mich. Kinder und Jugendliche brauchen eine Mutter - und ich hatte von einem auf den anderen Moment keine mehr", erzählte er einmal in einem Interview mit dem "Abendblatt".
"Ich musste danach doppelt so hart kämpfen - nicht nur auf dem Fußballplatz, sondern vor allem im normalen Leben. Plötzlich musste ich mich um meine kleine Schwester kümmern, obwohl ich gerade mal 14 Jahre alt war. Ich musste lernen, Verantwortung zu übernehmen und von einem auf den anderen Tag ernsthafter und erwachsener zu werden. Es war nicht leicht für mich, aber es hat mich gleichzeitig stärker gemacht."Auch diesen Kampf gegen das Schicksal beschreibt Rincon ganz ohne Heldenposen. Er spricht ruhig, reif und bescheiden. "Ich liebe den Fußball und bin ein glücklicher Mensch."
Tomas Rincon im Steckbrief