Am Ende bleibt Sebastian Deisler nichts anderes übrig als zu sagen: "Ich habe gegen meine Natur gelebt."
Wie es dazu kommt, dass sich ein Mensch jahrelang quasi selbst verleugnet, wie er daran zerbricht und nach zahllosen Kämpfen erschöpft aufgibt, ist eine mitunter tragische Geschichte.
Deisler im Rampenlicht - Ballack unter dem Radar
Deisler hat das Glück - oder eben das Pech - in eine ganz besondere Episode des deutschen Fußballs geboren zu sein. Ende der 90er Jahre geht sein Stern in Mönchengladbach auf, schnell sind viele Blicke auf diesen schlaksigen Typ gerichtet. Der am Ball perfekt zu sein scheint, beidfüßig, kraftvoll und doch elegant, wendig, künstlerisch.
Fast zeitgleich mit ihm macht sich im fernen Kaiserslautern ein anderer langsam auf, die Fußballwelt zu erobern. Nur: Michael Ballack ist ein hoffnungsvolles Talent, das unter Otto Rehhagel behutsam aufgebaut und nicht verheizt wird. Und das fast komplett unter dem öffentlichen Radar durchtaucht.
Ballack wird in seiner ersten Saison bei 16 Einsätzen 15-mal eingewechselt. Deisler spielt zehn seiner 17 Partien in der Premieren-Saison komplett durch. Selbst wenn er gar nicht richtig fit ist. "Es gab Phasen, da habe ich mich dazu drängen lassen, zu früh anzufangen", sagt er im Rückblick.
Walter, Seeler, Beckenbauer, Deisler
Der Aufstieg ist glanzvoll. Erst der Wechsel zu Hertha BSC, dann das Debüt in der Nationalmannschaft, später der Transfer zu den Bayern. Dabei wird zum ersten Mal auch für Außenstehende offenbar, wie groß der Druck ist.
Die Berliner Fans verzeihen ihm den Wechsel nicht, bei Heimspielen wird Deisler gnadenlos ausgepfiffen. Einige Medien in der Hauptstadt schreiben jeden Tag etwas über Deisler, obwohl es gar nichts zu berichten gibt.
Da ist er aber längst schon der Retter des deutschen Fußballs. Seine Trainer entfachen ungewollt einen Schwellenbrand. "Irgendwann wird er in einem Atemzug mit Walter, Seeler und Beckenbauer genannt werden", sagt Friedel Rausch, sein Trainer in Mönchengladbach.
"Der Sebastian ist ein Juwel. Er setzt spielerische Akzente und geht über die Schmerzgrenze hinaus. Solche Spieler brauchen wir", fordert Erich Ribbeck, 1999 noch Bundestrainer.
Es sind gut gemeinte Elogen, die dem Nachwuchsspieler Deisler aber letztlich nur schaden. Sein Heimweh bekommt er nicht los, nicht in Mönchengladbach, nicht in Berlin und in nicht München. In Berlin betrügt er sich zum ersten Mal selbst.
"Wie ein trauriger Clown"
"Ich habe versucht, auf Halligalli zu machen und so zu leben wie die meisten Fußballprofis. Ich habe mir schicke Uhren gekauft, teure Brillen, Klamotten wie sie. Wir sind abends die Läden abgefahren, Frauen haben wir natürlich auch kennengelernt, das ist nicht schwer als bekannter Spieler. Ich habe mitgemacht, ich habe mitgelacht und dabei bemerkt, dass ich nicht froh war", sagt er in einem der raren Interviews der "Zeit".
Die seelische Zerrissenheit wird ihn bald immer öfter begleiten, dazu kommen schwere Verletzungen an der Leiste und den Knien. Bis zum Ende seiner Karriere wird er in acht Jahren siebenmal operiert.
Er lässt er sich kaum etwas anmerken, spielt zunächst weiter die Spielchen mit, ist für jeden immer noch der "Basti fantasti". Ein Spitzname, als Antrittsgeschenk in der Hauptstadt vom Berliner Boulevard vergeben. Deisler selbst fühlte sich aber oft "wie ein trauriger Clown".
Deisler bitte um Geduld - niemand hört zu
Die Nationalmannschaft rumpelt in diesen Jahren leblos vor sich hin, einer sticht heraus. "Er ist der Spieler, auf den wir jahrelang gewartet haben", sagt Rudi Völler und erfährt ungeteilte Zustimmung. "Die Last muss auf mehrere Schultern verteilt werden. Ich muss noch einiges lernen", entgegnet Deisler. Es hört nur niemand zu.
Es war eine schwere Zeit für den deutschen Fußball. Jede noch so kleine Regung in den Juniorenteams wird beobachtet. Die Nationalmannschaft ist bei der Europameisterschaft in Belgien und den Niederlanden krachend gescheitert und vegetiert vor sich hin.
Die Goldgräberstimmung erreicht ihren Höhepunkt, als Deisler im März 1999 gegen 1860 München einen Sololauf über 60 Meter mit seinem ersten Bundesligator krönt. Der Treffer wird gefeiert wie ein großes Versprechen für eine goldene Zukunft. Die "Süddeutsche Zeitung" schreibt: "Der Ball schlug an derselben Stelle ein wie Netzers 2:1 im Pokalfinale gegen Köln 1973."
"Genickschuss" beim Wechsel nach München
"Ich war 19, 20, als die Deutschen meinten, ich könnte ihren Fußball retten. Ich allein", sagt Deisler. Der Wechsel zu den Bayern wirbelt viel Staub auf, die Zahlung eines Handgeld an den Spieler beschädigt das Bild vom edlen Hoffnungsträger. Aus Liebe wird binnen weniger Tage Hass. Offenbar erreichen Deisler auch Morddrohungen einiger Fans.
Von zwanzig Millionen D-Mark ist die Rede. Die Bayern deklarieren das schnell als "Darlehen", Deisler zahlt die Summe später wieder zurück. Den "Genickschuss", den er durch die Geschichte erleidet, kann er aber nie wieder reparieren. "Das hat mir den Fußball versaut."
Zwei Großturniere verpasst
In München ergeht es ihm kaum anders als zuvor in Berlin. Verletzungen plagen ihn, die Bosse werden schnell ungeduldig. "Er beherrscht als Fußballer Dinge, die kann kein anderer in Deutschland. Aber er will nur trainieren, spielen und ab nach Hause. Beim FC Bayern ist das nicht genug", sagt Karl-Heinz Rummenigge über den introvertierten Spieler.
Wenige Wochen macht Deisler seine Erkrankung publik: Depression. Nach einigen Monaten kommt er zurück, will neu angreifen und phasenweise gelingt ihm das auch. Die EM 2004 verpasst er trotzdem.
Deisler hangelt sich durch, auch wenn ihm die Freude am Spiel mehr und mehr verloren geht. Die Heim-WM 2006 ist ein großes Ziel. Im WM-Jahr spielt er Anfang März ein letztes Mal für Deutschland, das schockierende 1:4 in Italien wird der Schlusspunkt von nur 36 Länderspielen sein. Wenige Tage später reißt ein Stück Knorpel aus seinem rechten Knie aus. Sechs Monate Pause sind die Folge.
Rücktritt vor fünf Jahren
Längst haben die seelischen Verletzungen aufgeholt zu den körperlichen, die Spirale hat sich wieder in Gang gesetzt. Die Meinungsmache der Öffentlichkeit gesellt sich zur persönlichen Malaise, Deisler gleitet ab. Die eigenen Ansprüche sind schon lange nicht mehr der Gratmesser.
"Ich habe mich gefühlt wie eine Glühbirne, die einsam von der Decke hängt. Nackt. Für jeden sichtbar. Unter mir war nichts."
Einen letzten Comebackversuch beendet er am 16. Januar 2007. Deisler tritt für immer ab. Uli Hoeneß ist geschockt: "Ich habe bis zuletzt gehofft, dass das alles ein Albtraum ist und gehofft, dass er vor diesem Schritt doch noch zurückschreckt. Diesen Kampf haben wir verloren." Einer der besten Fußballer der letzten Dekade verabschiedet sich leise.
Er sei "eines der größten Verlustgeschäfte in der Geschichte des FC Bayern", ruft ihm Edmund Stoiber noch hinterher. Sebastian Deisler hört da aber schon gar nicht mehr zu.
Selbst gewählter Weg...
"Deislers Scheitern ist mit langer Ansage gekommen", schreibt Michael Rosentritt in Deislers Biographie "Zurück ins Leben", die im Oktober 2009 erscheint. "Und wir, sein Publikum und die Medien, haben der öffentlichen Person Sebastian Deisler bei ihrem Verschwinden zugeschaut, bis der Fußballer in ihm fristlos kündigte."
Dabei darf aber auch nicht vergessen werden, dass es Deisler selbst war, der den steilen Anstieg gewählt hat. Hertha BSC war damals ein Klub mit Champions-League-Ambitionen, Bayern München sein Traumverein und der beste Klub des Landes. "Man muss härter sein als ich", sagt er rückblickend.
Das Buch sei Teil seiner Therapie gewesen, sagt Deisler. Seine Kritiker sahen selbst das anders, hafteten ihm den Versuch an, mit seiner rätselhaften Geschichte jetzt noch ein paar Euro machen zu wollen. Ihm, der seinen üppig dotierten Vertrag bei den Bayern von sich aus aufgekündigt hatte.
Wer Deisler aber dann im Fernsehstudio bei Günther Jauch sah und mitbekam, wie schwer der Ex-Fußballer und jetzt nur noch Mensch Deisler an seinem Schicksal immernoch zu knabbern hatte, der wusste, dass es für ihn ein langer Weg Zurück zur Normalität war und ist.
Mahnmal für Spieler, Fans und vor allem Medien
Die Geschichte von Sebastian Deisler ist eine tragische, aber vielleicht hilft sie auch dem einen oder anderen jungen Spieler heute. Schon lange nicht mehr hat der deutsche Fußball solch eine Fülle an begabten Nachwuchsspielern hervorgebracht, denen die Welt offen zu stehen scheint.
Dass der schöne Schein aber auch leicht umschlagen kann in eine beklemmende Enge, sollte jedem bewusst sein. Deislers Geschichte kann auch ein Mahnmal sein für Spieler, Fans und Medien.
Sebastian Deisler, der heute zurückgezogen in seiner Heimatstadt Lörrach im Schwarzwald lebt, hat diese Geschichte längst abgeschlossen. "Ich habe mich trocken geweint", sagt er.
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