Vor fast genau einem Jahr war Kevin Kuranyi arbeitslos. Zumindest virtuell.
Unbekannte hackten sich in die Server des FC Schalke 04 und publizierten folgendes auf der Vereins-Homepage: "Eilmeldung - Kevin Kuranyi freigestellt." Die vermeintliche Entlassung wurde mit "untragbaren Äußerungen von Kevin gegen die Mannschaft" erklärt.
Ein gelungener Coup der Computer-Kriminellen, immerhin wirkte die Falschmeldung derart authentisch, dass sich die Nachricht dank Twitter und News-Feeds innerhalb weniger Minuten wie ein Virus im Internet verbreitete.
Denn eine Trennung erschien nur folgerichtig. Schalke und Kuranyi: Die Beziehung glich einer Ehe, die nur hielt, weil sich beide Partner aus Bequemlichkeit nicht aufraffen konnten, einen Schlussstrich zu ziehen.
Auf den Spuren Gerd Müllers
Zwölf Monate später ist aus dem herzlosen Nebeneinander jedoch eine leidenschaftliche Liaison entwachsen. Kuranyi spielt zwar bereits sein fünftes Jahr auf Schalke - doch erst in den vergangenen Wochen lernten der Verein und die Fans, ihn wertzuschätzen, vielleicht sogar zu lieben.
"Das ist der bislang größte Sieg in meiner Karriere. Die Leute schätzen mich nicht mehr falsch ein. Nun sagen sie, der Kuranyi ist doch kein Verkehrter. Darauf bin ich unheimlich stolz", sagt Kuranyi.
Der 27-Jährige spielt die wohl beste Saison seiner Karriere und erzielte in 20 Spielen bereits elf Treffer. Fünf von ihnen waren das wichtige 1:0. Nur: Tore hat er schon immer geschossen, immerhin ist es seine achte Spielzeit in Folge mit zweistelliger Ausbeute. Lediglich Gerd Müller (13 Mal) und Manfred Burgsmüller (zehn Mal) gelang in der Bundesliga-Historie eine längere Serie.
Trotz der phänomenalen Erfolgsquote blieb Kuranyi jedoch immer umstritten. Was zu Beginn der Karriere mit Witzen über seine Frisuren oder seinem Kleidungsstil begann, entwickelte sich zu einer grundsätzlichen Antipathie gegenüber Kuranyi - obwohl dessen körperbetontes und mannschaftsdienliches Spiel im Grunde perfekt zum Schalker Fußball-Geist passt. Woran sich die meisten hauptsächlich störten, war der Mensch Kuranyi.
"Ich gehe ungern voran"
Die Vorwürfe sind so verschieden wie im Kern immer gleich: Er würde mehr auf sein Aussehen als auf seine Ball-Annahme achten. Er neige zu Selbstzufriedenheit und sei nicht fleißig genug im Training. Und er wäre im Grunde ein verhätschelter und schnell beleidigter Kindskopf, was die skandalöse Flucht von der Nationalmannschaft im Herbst 2008 zweifelsfrei bewiesen hätte.
Das Erstaunliche: Kuranyi stimmt den meisten Punkten selbst zu. "Ich bin vom Typ zu entspannt, nicht fokussiert genug", sagt er beispielsweise. Oder: "Ich trainiere heutzutage länger als früher und mache viele Stabilisierungs- und Kräftigungsübungen."
Einen überraschend ehrlichen Blick in sein Inneres gewährte Kuranyi bereits vor der Saison, als er sich selbst beschreiben sollte: "Vom Spielertyp und von meiner Persönlichkeit kann ich mir nicht vorstellen, dass ich Kapitän sein könnte. Diese Führungsrolle liegt mir nicht. Vielleicht macht es bei mir klick, und ich werde zu einer Führungsperson. Aber ich gehe ungern voran."
Neue Medienberater, neue Frisur, neues Haus
So sehr sich Schalke in den letzten sechs Monaten als Verein gewandelt hat, veränderte sich auch Kuranyi. Statt sich wie früher hinter Phrasen zu verstecken, gibt er mittlerweile mehr von sich preis, um Vorurteile gegen sich abzubauen.
Mittlerweile feilen sogar zwei Medienberater an seinem Image, damit "ich so rüberkomme, wie ich wirklich bin", erklärt der als sensibel geltende Kuranyi. "Ich wollte mein öffentliches Ansehen korrigieren. Viele Menschen haben ein falsches Bild von mir."
Um seine Absicht eines Neubeginns zu illustrieren, verpasste er sich zudem einen weniger extravaganten Haarschnitt und zog vor der Saison aus dem 30 Kilometer entfernten Moers nach Gelsenkirchen-Buer, damit er sich besser auf Schalke konzentrieren kann. "Ich bekomme jetzt viel von dem mit, was rund um den Klub geschieht. Ich hätte schon früher umziehen sollen. Und wenn man zusätzliches Training machen will, ist man gleich in der Nähe."
Kuranyi mag die harte Hand
Der entscheidende Anstoß zur Veränderung ging von Felix Magaths Verpflichtung aus. Beide verbindet seit der gemeinsamen Zeit in Stuttgart, als sich Kuranyi unter Magath zum Nationalspieler entwickelte, eine besondere Beziehung. Eine Beziehung, die bereits damals recht eindimensional war. Magath befiehlt, Kuranyi gehorcht.
"Felix ist zu jedem sehr fordernd. Aber zu Kevin ist er wohl noch einmal eine Spur strenger", sagt Karlheinz Förster, langjähriger Berater Kuranyis, gegenüber SPOX. "Felix weiß eben aus der Vergangenheit, wie er Kevin anzupacken hat." Nämlich mit der harten Hand.
Kuranyi über seine masochistische Ader: "Es ist gut, wenn der Trainer mich kitzelt, indem er mich kritisiert. Manchmal bin ich sauer auf ihn, aber Felix Magath weiß, dass er so mit mir umgehen muss. Es ist völlig in Ordnung, dass er mich so unter Druck setzt. Das brauche ich. Sonst werde ich zu locker und denke, es geht alles von alleine. "
Dementsprechend nüchtern bewertet Magath die bisherigen Leistungen Kuranyis. Nach dessen Tor beim 2:0 gegen Hoffenheim sagte der Trainer süffisant: "Eigentlich hatten wir verabredet, dass Kevin zwei Tore schießt."
Systemumstellung im Sommer
Dabei schien vor dem Saisonstart sogar der Stammplatz in Gefahr. Konkurrent Halil Altintop, mittlerweile nach Frankfurt abgeschoben, machte in der Vorbereitung einen wesentlich besseren Eindruck als der körperlich ausgelaugte Kuranyi ("So was Hartes habe ich noch nie erlebt"), zumal die Taktikumstellung von einem 4-3-3 zu Magaths bevorzugtes 4-4-2 in der Raute eher gegen Mittelstürmer Kuranyi sprach.
"Kevin ist vergangene Saison die einzige zentrale Spitze gewesen. Jetzt muss er mehr rochieren. Mehr auf die Flügel ausweichen. Er muss seine Spielweise komplett umstellen. Er wird an Toren gemessen", forderte Magath damals.
Kuranyi antwortete devot: "Das neue System wird mir gut tun. So erhalten wir vorne mehr Bälle. Durch die harte Arbeit verbessere ich auch meine Fähigkeiten."
Und tatsächlich: Nach mittelmäßigen Start steigerte sich Kuranyi stetig. Aus dem zweikampfstarken Kopfball-Spezialisten wird zwar nie ein Edeltechniker, doch seine Ball-Verarbeitung sowie das Passspiel verbesserten sich unter Magath signifikant - eine wichtige Voraussetzung, damit das offensiv wenig kreative Schalke zumindest durch Konter Gefahr ausstrahlt.
Magath wollte Kuranyi verkaufen
Im 4-3-3, das Magath längst als probates Mittel entdeckt hat, kommen mit dem starken Jefferson Farfan (rechts) sowie dem verbesserten Vicente Sanchez (links) als Flankengeber auf den Flügeln Kuranyis Stärken im Abschluss noch besser zur Geltung. "Er macht seine Tore besser denn je", sagt Torwart Manuel Neuer. Farfan ergänzt: "Ich traue Kevin 20 bis 25 Tore zu."
Die Schalker Herrlichkeit könnte jedoch bereits im Sommer ein abruptes Ende nehmen. Kuranyis hochdotierter Vertrag läuft im Sommer aus - und noch ist unklar, ob Magath gewillt oder finanziell überhaupt in der Lage ist, eine Verlängerung anzubieten.
Bereits im Winter stand ein Wechsel Kuranyis nach Sunderland kurz vor dem Abschluss. Auf dem Weg der wirtschaftlichen Konsolidierung wäre die kolportierte Ablösesumme von 4,5 Millionen Euro für Schalke ein wichtiger Schritt gewesen, weswegen Magath einem Verkauf seines besten Torjägers zugestimmt hatte.
Die WM im Hinterkopf
Kuranyi jedoch sträubte sich gegen den lukrativen Wechsel nach Sunderland. Aus zweierlei Gründen: Einerseits genießt er bei Schalke das neue Gefühl, vom Publikum akzeptiert und anerkannt zu werden.
Andererseits will er weiter in Deutschland präsent sein, da er trotz seines Rauswurfs darauf spekuliert, womöglich doch noch eine Chance bei Bundestrainer Jogi Löw zu bekommen, sollte er weiter in der Bundesliga spielen und treffen.
Kuranyi in der "11 Freunde": "Es gibt nicht nur den Bundestrainer Löw und den Spieler Kuranyi, sondern auch die Menschen dahinter. Für mich ist die Frage: Wie kann ich es schaffen, einen Menschen und seine Meinung zu ändern?"
Zumindest auf Schalke ist ihm das schon gelungen.