Sie haben nicht nur Ihre Diplomarbeit geschrieben, sondern auch ein paar Jahre als Sportlehrer gearbeitet. Was haben Sie aus dieser Zeit mitgenommen?
Stoffelshaus: Ich habe Sport und Schwimmen unterrichtet und muss wirklich sagen, dass vor allem die letzte Zeit an einer Brennpunktschule in Oberhausen überragend war. Ich habe gesehen, wie Integration geht. Wir hatten Kinder mit unterschiedlichster Herkunft, aber das war nie ein Thema. Ich habe noch nie erlebt, dass beim Wählen von Mannschaften bei Kindern nach Nation gegangen wird. Es spielt überhaupt keine Geige, wo du herkommst, du musst kicken können. (lacht) Den Kids Spaß an der Bewegung zu vermitteln, hat mir unglaublichen Spaß gemacht. Jeden Tag sind sie auf dem Schulhof angerannt gekommen und haben gefragt, was wir heute machen. Es war wunderbar zu sehen, wie die Kinder miteinander umgehen. Ich möchte die Zeit auf gar keinen Fall missen.
Irgendwann kam der Moment, als Sie entschieden haben, wieder eine neue Aufgabe zu suchen und zwar möglichst weit weg. Warum wollten Sie unbedingt in die weite Welt hinaus?
Stoffelshaus: Es gibt ein schönes Zitat von Thomas Broich: "Hauptsache maximal weit weg." Genau so war es bei mir auch. (lacht) Mir ist bewusst geworden, dass ich Anfang 40 war, aber mein ganzes Leben lang nie aus dem Kosmos Ruhrgebiet herausgekommen bin. Alles hat sich innerhalb von einem Radius von 40 Kilometern abgespielt. Meine jetzige Frau und ich sind beide abenteuerlustig, so habe ich angefangen, online nach offenen Stellen zu schauen und Initiativbewerbungen loszuschicken. Neuseeland, Australien, USA, Kanada - es war alles dabei. Der neuseeländische Verband hat abgewunken, weil sie dachten, dass sie mich ohnehin nicht bezahlen können, dabei ging es mir gar nicht um Geld, mir ging es um die Aufgabe. Am Ende ist es Kanada geworden. Im November 2013 fing ich als Technischer Direktor des West Ottawa Soccer Clubs an. Plötzlich war ich in einer ganz neuen Fußballwelt.
2015 ging es schon weiter zum Fußballverband der Region York in Toronto. Wie kann man sich Ihre Arbeit dort vorstellen?
Stoffelshaus: Zunächst mal muss man wissen, dass Ontario dreimal so groß ist wie die Bundesrepublik. Ich war sozusagen der Verbandssportlehrer der Region York und habe versucht, meine Ausbildung als Fußballtrainer, als Sportlehrer und auch als Kaufmann zu verbinden. Ich habe Programme für Kinder entwickelt, sowohl im Grassroots- als auch im High-Performance-Bereich. Wir haben es zum Beispiel geschafft, dass wir in meinem District fast das ganze Jahr durchspielen konnten, was ja in Kanada klimatisch nicht ganz einfach ist. Wir konnten das durch viele Soccer Domes aber zum Glück lösen. Was interessant ist: In Kanada gilt "pay to play". Das heißt: Auf die Eltern kommen hohe Kosten zu. Wir sprechen von 500 oder 600 Dollar für einen Zeitraum von Mai bis September - und das ist noch günstig. Und sowas wie Trikots sind da noch gar nicht dabei. Für ein Jahr im High-Performance-Bereich sind wir bei 4400 Dollar plus Fahrtkosten.
Stoffelshaus über den kanadischen Ansatz in der Nachwuchsförderung
Und die Eltern zahlen das?
Stoffelshaus: Ja. Die Eltern in Kanada sind bereit, das zu bezahlen. Sie wollen, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung bekommen, von guten Trainern. Sie investieren in ihre Kinder, sie sind es ihnen wert. Ich weiß, dass es viel Geld ist, aber ich finde das keine schlechte Einstellung. Vielleicht sollte da bei uns in Deutschland ein Umdenken einsetzen. Was dabei aber wichtig wäre: Dass Kinder aus Familien mit weniger finanziellen Mitteln unterstützt und gefördert werden. Auf jeden Fall können wir es den vielen Ehrenamtlichen im deutschen Fußball gar nicht hoch genug anrechnen, wenn wir uns die Situation in Kanada vor Augen führen. In Kanada hatten wir bei den Mädchen eine U-8-Liga mit 20 Teams. Versuchen sie das in Deutschland mal zu finden? Jeder, der den nordamerikanischen Fußball belächelt, weiß nicht, wovon er spricht.
In Kanada gibt es ja generell auch einen etwas anderen Ansatz in der Ausbildung. Erklären Sie.
Stoffelshaus: In Kanada steht nicht im Vordergrund, Kinder zu Profisportlern zu machen. Erst einmal geht es um den Spaß an der Bewegung und hoffentlich gesund fürs Leben zu sein. Das ist wichtig. Die kanadischen Kinder machen nie nur einen Sport, sie werden alle zu Multisport-Athleten entwickelt, die lernen, Fähigkeiten von der einen auf die andere Sportart zu transferieren. Das merkt man total. Sie sind schnell, pfiffig, dribbelstark - sie haben ein ganz anderes Portfolio als viele Kinder in Deutschland, die nur Fußball spielen die ganze Zeit. Jeder Sportwissenschaftler sagt, dass eine frühe Spezialisierung nicht gut ist, trotzdem wird in den Leistungszentren die ganze Woche Fußball trainiert. Jeder weiß es, aber geändert wird nichts. Wir haben in Deutschland immer noch super Talente, aber wir sollten unbedingt über den Tellerrand hinausblicken und schauen, wie es woanders auf der Welt gemacht wird. Das Lustige ist, dass die Kanadier ausgerechnet in ihrem Nationalsport Eishockey einen ähnlichen Fehler gemacht haben und einsehen mussten, dass die Skandinavier sie überholt haben. Dort hat jetzt auch wieder ein Wandel stattgefunden.
Wie geht Kanada in der Nachwuchsförderung mit dem Thema Persönlichkeitsentwicklung um?
Stoffelshaus: Zum einen gibt es offene Kader. Das heißt, dass es keine erste, zweite und dritte Mannschaft gibt. Die Besseren müssen Teamfähigkeit lernen und akzeptieren, auch mit Jungs in der Mannschaft zu spielen, die nicht auf ihrem Niveau sind, und ihnen zu helfen dahin zu kommen. Durch diese Steuerung werden Kinder auch nicht zu früh als zu schlecht abgestempelt und haben die Chance, auch später noch den Sprung zu schaffen. Außerdem wurde ich mit der Idee "No scores, no standings" konfrontiert. Wie bitte? Wie soll das denn gehen? Ich war natürlich erstmal sehr skeptisch, aber ich musste erkennen: Keine Ergebnisse, keine Tabellen - das funktioniert! Plötzlich hast du keine Eltern mehr am Rand stehen, die die ganze Zeit reinschreien und die Kinder verrückt machen. Es ist doch am Anfang völlig egal, ob man eine Meisterschaft gewinnt oder absteigt. Es geht darum, dass die Kinder Spaß haben und sich natürlich entwickeln. Und eines ist auch klar: Die Kids wissen auf dem Feld, wie es steht, und wollen gewinnen. Erst in der U13 kommt der Punkt, an dem auch über Ergebnisse geredet wird. Oder eine andere Geschichte: Wir haben in der U9 die Kinder Fünf gegen Fünf ohne Schiedsrichter spielen lassen. Sie mussten es selbst regeln und sie haben es selbst geregelt, so wie auf dem Schulhof auch jeder weiß, wenn es ein Foul war. Es gab einige Punkte in Kanada, die definitiv meinen Horizont erweitert haben.
Sie hatten in Kanada also ein perfektes Leben.
Stoffelshaus: Wir haben in Downtown Toronto gelebt, mit Blick auf den Lake Ontario. Es war wirklich wie im Bilderbuch.