"Wir haben Weidenfeller ein paar reingehauen"

Taime Kuttig spielt in der Blindenfußball-Bundesliga für den BVB
© Blindenfußballbundesliga

Taime Kuttig ist einer der besten Blindenfußballer des Landes, spielt in der Bundesliga für den BVB und stand im Spätsommer bei der Europameisterschaft in Berlin besonders im Fokus. Fernab des Großereignis "können sich die Wenigsten vorstellen, mit welchem Tempo wir agieren", sagt er etwas frustriert über seinen Sport. Im SPOX-Interview räumt der 25-Jährige mit Vorurteilen auf. Außerdem spricht er über die Zusammenarbeit mit den BVB-Profis um Marcel Schmelzer und Roman Weidenfeller, schwärmt von professionellen Blindenfußballern in Südamerika und prangert die Förderungspolitik und Struktur des DFB an.

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SPOX: Herr Kuttig, als Nationalspieler im Blindenfußball heißt es über Sie, dass Sie fußballverrückt sind und den wöchentlichen Profifußball verfolgen. Wie reagieren Sie eigentlich auf Ihrer Behinderung nahe stehenden Beleidigungen - etwa gegenüber dem Schiedsrichter - wie "Du Blinder"?

Taime Kuttig: Wir Sehbehinderte würden das unter Umständen sogar noch selber rufen, wenn die Entscheidung gegen den Lieblingsverein fällt (lacht). Wenn ich ehrlich bin, ist das bei uns auf der Couch und im Stadion sogar auch schon vorgekommen, dass ein sehbehinderter Freund oder ich so etwas gerufen hat. Ich denke, da kann ich für fast alle Blindenfußballer sprechen, dass das für uns absolut nicht schlimm ist und sogar ein Stück weit Normalität, so lange es gegenüber dem Schiedsrichter nicht zu ausfällig wird. Ansonsten ist das für einen Schiedsrichter bestimmt nicht so angenehm.

SPOX: Wie nehmen Sie ohne Sehvermögen ein Fußballspiel von außen wahr? Welche Möglichkeiten haben sie, das Spielgeschehen und das Treiben auf den Rängen zu verfolgen?

Kuttig: Ich verfolge die Bundesliga und generell den Fußball sehr intensiv. Ich bin selbst auch Stuttgart-Fan und leide mit über diverse Apps, wo Einzelspiele oder die Konferenz sehr detailliert im Audiostream beschrieben werden für Menschen, die das Spiel nicht sehen können oder wollen - das gilt ja auch für die klassischen Radiokonferenzen. Genauso schaue ich aber auch regelmäßig Fußball im Fernsehen mit Freunden. Ich habe einen ganz fußballverrückten Kumpel, der mir die wichtigsten Spielzüge kommentiert (schmunzelt). Ansonsten bekomme ich viel über die Atmosphäre und den Originalkommentator mit.

SPOX: Es heißt, Sie sind auch regelmäßig im Stadion.

Kuttig: Das stimmt. Da bekomme ich dann zwar nicht so sehr viel mit vom Spielgeschehen, sondern habe mehr damit zu tun, meine Mannschaft anzufeuern und genieße die Atmosphäre auf den Rängen in der Stehkurve sehr. Ich habe zwar immer Freunde dabei, die gerne erklären, aber vieles bekomme ich über die Stimmung mit. Zum Beispiel über die angesprochenen Rufe, die Sie eingangs erwähnt haben. (schmunzelt)

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SPOX: Es gibt in den meisten Bundesligastadien spezielle Audiokommentare zum Spiel. Nehmen Sie dieses Angebot nicht wahr?

Kuttig: Es gibt eigene Plätze für Sehbehinderte mit guten Kommentaren. Dennoch bin ich da kein großer Fan von, weil ich fast gar nichts von der stadiontypischen Atmosphäre mitbekomme. Dann könnte ich das Spiel auch von zu Hause aus verfolgen.

SPOX: Meistens sind Sie ja ohnehin selbst im Einsatz. Als einer der besten Blindenfußballer des Landes prägen Sie das Geschehen in der Nationalmannschaft. Wie Sind Sie zum Blindenfußball gekommen?

Kuttig: Ich bin 2004 schulisch nach Marburg gezogen und war damals schon großer VfB-Fan. Kevin Kuranyi war mein großes Vorbild, das hat sich mittlerweile geändert. (lacht) Jedenfalls wollte ich ihm immer nacheifern und als Kind ist dir deine Behinderung ja nicht so bewusst, und damit auch nicht, dass du das in der Form nicht erreichen kannst. Aber ich habe immer fleißig mit den Kindern mitgespielt auf der Straße und mit zwölf Jahren in Marburg mit Blindensport angefangen. Irgendwann hieß es, es wird eine Blindenfußball-Mannschaft gebildet.

SPOX: Das war das erste Mal in Deutschland überhaupt, richtig?

Kuttig: Richtig, dementsprechend groß war zu der Zeit der Andrang. Beim ersten Training waren es mehr als 40 Teilnehmer. Dabei habe ich schnell gemerkt, dass es sich ausgezahlt hatte, jahrelang mit meinen Brüdern mitgekickt zu haben.

SPOX: Heute sind Sie komplett blind. Das war nicht immer so.

Kuttig: Ich hatte eine Netzhautablösung, doch zunächst noch fünf Prozent Sehfähigkeit. Die Ablösung kann schnell, schrittweise oder ganz langsam geschehen. Bei mir war es zum Glück letzteres. Vereinstraining war dennoch leider nie richtig möglich, aber so wurde ich ein richtiger Straßenfußballer. (lacht) Dann hatte ich einen Schub mit zwölf Jahren. Die fünf verbleibenden Prozent habe ich dann innerhalb von drei Jahren verloren.

SPOX: Hilft es Ihnen beim Blindenfußball, dass Sie einst zumindest ein bisschen gesehen haben? Kann ein Geburtsblinder die gleiche Vorstellungskraft entwickeln - ist da Chancengleichheit gegeben?

Kuttig: Zunächst mal tragen alle Dunkelmasken, um schon mal grundlegend für gleiche Voraussetzungen zu sorgen. Es gibt Spieler wie mich, die können zwischen hell und dunkel unterscheiden. Ohne Maske könnten wir noch die Banden außen erkennen. Bei offiziellen Bundesligamatches und Länderspielen tragen wir deshalb noch weitere Schichten, sogenannte Eyepatches, die dafür sorgen, dass wirklich niemand irgendetwas sieht. Ich habe früher als Kind viel FIFA an der Konsole gezockt und weiß, wie Spielzüge aufgebaut werden und wie diese ungefähr aussehen. Diese Erinnerungen und meine Erfahrungen auf der Straße stelle ich mir unter der Dunkelmaske vor dem inneren Auge vor. So versuche ich, mir die Spielzüge und Laufwege meiner Teamkollegen vorzustellen. Das weicht natürlich manchmal von der Realität ab, hilft aber im Vergleich zu jemand, der diese Erfahrung nicht gemacht hat, ungemein.

SPOX: Ist diese Vorstellungskraft in Ihrem Sport daher wichtiger als Taktik und Technik?

Kuttig: (überlegt) So krass würde ich das nicht formulieren. Klar ist, dass es ein Raumgefühl benötigt, um diesen Sport auf einem guten Niveau auszuführen. Aber wir haben in der Nationalmannschaft auch Geburtsblinde, die sich das antrainiert haben, was die richtigen Laufwege sind. Es hängt oft davon ab, welche Erziehung diese Spieler in der Kindheit genossen haben.

SPOX: Können Sie das genauer ausführen?

Kuttig: Es geht darum, ob jemand von klein auf auf die Natur und Menschheit losgelassen wurde, um seine Umgebung zu erkunden. Je normaler diese Menschen aufgewachsen sind, desto besser klappt diese Vorstellungskraft auf dem Rasen. Wenn man nur zuhause saß und von den Eltern behütet wurde, hatte man wenige Möglichkeiten, das zu entwickeln. Es ist jedenfalls sehr auffällig, dass letztere im Blindenfußball nahezu chancenlos sind.