Als der Große Preis von Aserbaidschan noch Großer Preis von Europa hieß - das war vor einem Jahr -, musste man sich nicht besonders weit aus dem Fenster lehnen, um sagen zu können, dass der spätere Debütsieger in Baku in einem Mercedes sitzen würde. Zu überlegen waren Nico Rosberg und Lewis Hamilton 2016. Zu sehr passte der neue Kurs mit seiner besonderen Charakteristik zu den Silberpfeilen.
Jetzt, im Juni 2017, kann man natürlich immer noch guten Gewissens auf einen Mercedes-Sieg setzen. Bei den Wettanbietern ist Hamilton nicht umsonst der Favorit. Doch ganz so klar wie es auf den ersten Blick scheint, ist die Sache dann doch nicht. Schließlich befinden wir uns in dieser Saison in einem WM-Zweikampf - zwischen Hamilton und Sebastian Vettel auf Fahrer- und zwischen Mercedes und Ferrari auf Konstrukteursseite. Vettel führt die Wertung mit zwölf Zählern Vorsprung an (141 zu 129), Mercedes liegt mit acht Punkten in Front (222 zu 214).
Das amtierende Weltmeister-Team übernahm die Spitze dank des Doppelsiegs in Kanada. Es war der erste im Jahr 2017. Und der Beginn einer Trendwende?
Mercedes hat "das schnellste Auto im Feld"
"Wir wissen seit diesem Rennen, in welche Richtung wir das Auto entwickeln müssen. Das könnte in dieser WM wirklich den Unterschied machen", zeigte sich Hamilton nach seinem Start-Ziel-Sieg in Montreal optimistisch.
Und auch Motorsportchef Toto Wolff frohlockte mit Erinnerung an das verkorkste Wochenende in Monaco: "Es war eine Genugtuung, zu sehen, wie sich all die Analysen in Kanada so gut ausgewirkt haben. Jetzt geht es darum, diesen Schwung aufrechtzuerhalten." Der Österreicher ist sich dabei sicher, dass der Mercedes "das schnellste Auto im Feld" sei und er "kein anderes lieber" hätte.
Doch bei aller Euphorie gibt es auch Zweifel. Zum einen wurde Ferrari beim GP an der Ile Notre Dame durch Vettels folgenschwere Berührung mit Max Verstappen am Start unter Wert geschlagen. Zum anderen legte zwar Hamilton einen perfekten Auftritt hin, Teamkollege Bottas aber kam nie auf einen grünen Zweig. "Das ist immer noch ein bisschen ein Mysterium", gab Wolff gegenüber Sky zu.
Zwar verstehen die Ingenieure das eigene Auto immer besser, doch das alte Problem der Wankelmütigkeit des F1 W08 bleibt nach wie vor bestehen. "Ich würde nicht sagen, dass das jetzt gelöst ist", gestand auch Wolff: "Wir haben darüber gescherzt, dass unser Auto eine kleine Diva sei. Es ist ein gutes Auto, obwohl es manchmal schwierig sein kann. Das müssen wir akzeptieren."
Ferraris großes Plus: die Reifen
Sorgen bereiten Mercedes dabei vor allem die Pirelli-Reifen. Diese ins Arbeitsfenster zu bekommen, fällt Hamilton und Bottas besonders schwer. Ferrari tut sich hier deutlich leichter. Unabhängig vom Streckenlayout, der Asphaltbeschaffenheit oder den äußeren Bedingungen bringen die Italiener die Gummis auf Idealtemperatur. Ein Vorteil, an dem Silber zu knabbern hat. "Ferrari war bisher enorm konstant. Kanada war das einzige Wochenende, an dem sie nicht das Optimum herausgeholt haben", lobte selbst Hamilton den Rivalen.
Um die 2017er-Reifen besser zu verstehen, hat Ferrari dabei schon letzte Saison mächtig Vorarbeit geleistet. Mit einem umgebauten 2015er-Renner fuhren Vettel und Räikkönen bei Pirellis Reifentests laut motorsport.com insgesamt über 3.000 Kilometer. Rosberg und Hamilton kamen hingegen nur auf knapp 260 Kilometer, weil sich beide Piloten lieber auf den WM-Kampf konzentrieren wollten. Stattdessen spulte Pascal Wehrlein den Großteil der Testfahrten für Mercedes ab.
Ein Nachteil, wie auch Wolff weiß: "Für Ferrari war es mit Sicherheit ein Vorteil, dass sie Vettel haben fahren lassen, denn mit seiner Erfahrung war er ein zuverlässiger Testfahrer. Wenn du als Pirelli-Ingenieur weißt, dass Vettel dein Auto fährt und dir Rückmeldungen gibt, dann ist das etwas anderes als mit Pascal Wehrlein."
Prognose? Unmöglich!
Sollte es Mercedes dank der "24/7-Arbeit" nach dem Monaco-GP trotzdem gelungen sein, hinter den Kniff der schwarzen Pneus und des eigenen Boliden gekommen zu sein, dann könnte die Formel-1-Spitze tatsächlich bald wieder dauerhaft in Silber leuchten.
Doch ob das realistisch ist? "Was wir in Montreal gemacht haben, war korrekt. Aber Baku wird schwieriger. Dort wird sich zeigen, wie viel wir wirklich verstanden haben", warnte ein Mercedes-Ingenieur bei auto motor und sport.
Der Baku City Circuit bietet mit einem 2,2 Kilometer langen Vollgasstück Mercedes Vorteile, unterstreicht als Stadtkurs mit seinen engen Kurven aber auch die Stärken des Ferraris. Zudem erinnert der glatte Asphalt an Sotschi - hier gewann Bottas sein bisher einziges Formel-1-Rennen, während Hamilton unter ferner liefen fuhr.
Wer am Kaspischen Meer also triumphieren wird, ist zu diesem Zeitpunkt genauso offen wie die Weltmeisterschaft. Oder um es mit den Worten von Vettel zu sagen: "Wenn das in Montreal ein Hin war, dann ist Baku hoffentlich wieder ein Her."