SPOX: Herr Stuck, die Interview-Anfragen haben sich zuletzt wohl gehäuft. Wie froh sind Sie, dass in Melbourne endlich die Motoren losheulen?
Hans-Joachim Stuck: Mir ist die Pause zwischen November und März eindeutig zu lang. Obwohl die Testfahrten durch die kühlen Temperaturen nicht aussagekräftig waren, sah man bei Fernando Alonso schon das Feuer in den Augen. Und Lewis Hamilton ist noch heißer. Da bahnen sich spannende Dinge an.
Wer stoppt Vettel? Jetzt mit dem GP-Rechner die Saison durchspielen
SPOX: Weltmeister Sebastian Vettel bezeichnete die letzten Wochen als "unbewusstes Schattenboxen". Seriöse Prognosen sind unmöglich - wurde in diesem Jahr mehr gepokert?
Stuck: Pokern gehört dazu. Die Top-Teams ließen aber sehr wohl den Speed erahnen. Mercedes, Red Bull und Ferrari sind schnell. Allerdings konnte niemand vernünftige Longruns fahren, da die Reifen nach zwei Runden körnten. Dieser Parameter fiel weg. Es fehlen schlichtweg Vergleichswerte. Keiner weiß, wie sie in der Hitze reagieren. Von den Temperaturen wartet in Melbourne und Malaysia der Härtetest. Das wird spannender als je zuvor.
SPOX: Pirelli liefert für die neue Saison noch weichere Mischungen. Was ist der Hintergrund?
Stuck: Durch höheren Verschleiß verringert sich der Grip, dadurch soll zusätzliche Spannung erzeugt werden. Mehr Boxenstopps sind die Folge. Die Formel 1 muss packenden Sport bieten. Die Pneus werden als Instrument verwendet. Daraus gilt es, das Maximum herauszuquetschen.
SPOX: Inwiefern verfälscht diese dramaturgische Rolle auch das Bild: Gewinnt heutzutage nicht der schnellste, sondern der vernünftigste Pilot?
Stuck: Die Anforderungen sind vielfältig. Man kämpft nicht nur um Zehntelsekunden, sondern muss mit den Reifen haushalten. Ganz speziell wird die Situation bei Mercedes. Nico Rosberg ist für seine jungen Jahre sehr abgeklärt, fährt weich und rund. Und Neuzugang Lewis Hamilton gibt Vollgas bis zum Sankt Nimmerleinstag. Da wird sich bald zeigen, wer das bessere Programm hat.
SPOX: Die strategische Komponente wird dadurch immer wichtiger.
Stuck: Mit Sicherheit! In Australien müssen die Fahrer schnellstmöglich lernen, wie sich die Pirellis bei den Distanzläufen verhalten. Zwar kann man in der Formel 1 vieles berechnen, aber nicht, wie diese reagieren. Danach wird schließlich die Taktik für den Sonntag ausgelegt.
SPOX: Mercedes klagte in der Vergangenheit über schnell abbauende Reifen an der Hinterachse. In Barcelona schien man diese Problematik gelöst zu haben. Wie schätzen Sie das Leistungsvermögen ein?
Stuck: Sie wussten die Ansatzpunkte genau. Nach drei mageren Jahren stehen sie unter Druck. Zwar werden sie nicht unbedingt Weltmeister, dennoch ist der Fortschritt unverkennbar. Ob sie reif für den Sieg sind, kann ich nicht beurteilen. Leider habe ich keine Kristallkugel (lacht).
SPOX: Hinter den Kulissen erfolgten Personalrochaden: Die Spitze wurde mit Neo-Motorsportchef Toto Wolff und Aufsichtsratschef Niki Lauda neu formiert. Wie bewerten Sie die Verpflichtungen?
Stuck: Zuerst finde ich den Abschied Michael Schumachers höchstbedauerlich. Er ist eine Lichtgestalt und wurde durch Hamilton ersetzt. Für Norbert Haug tut es mir besonders leid. Er ist ein Urgestein, und wurde wie Schumacher eiskalt abserviert. Dafür habe ich kein Verständnis. Ohne ihn wären die Silberpfeile nie dort, wo sie heute stehen. Mit Wolff holte man jedoch den bestmöglichen Ersatz. Mir fällt niemand ein, der das Geschäft von der Pike auf derart gelernt hat. Er konnte bei Williams eindrucksvoll beweisen, welch guter Manager er ist. Auch das Engagement von Niki Lauda ist vielversprechend. Er hat ein Networking wie kaum ein anderer. Beide werden ein wichtiger Faktor der Umstrukturierungen sein.
SPOX: Sie haben Schumacher angesprochen. Glauben Sie, dass sich der Rekordweltmeister ob des erkennbaren Aufwärtstrends über seinen Rückzug ärgert?
Stuck: Ich bin sicher, der Abgang war nicht freiwillig. Die Pole-Position in Monte Carlo hat gezeigt, dass er rein gar nichts verlernt hat. Mit einem Auto, welches nicht auf Augenhöhe mit den Top 3 war, holte er das Maximum heraus. Diese Schmierfinken, die ihm eine Brille empfohlen haben, sollen zuerst das leisten, was ihm gelang. Eine solche Behandlung hatte er nicht verdient. Natürlich wird er sich sagen: ‚Den Scheiß habe ich hinter mir'. Dennoch bleibt er ein Racer, von der Zehe bis zu den Haarspitzen. Ihn wird es jucken, davon bin ich überzeugt.
SPOX: Hamilton, dessen Grundschnelligkeit unbestritten ist, erbte das Cockpit. Als der Coup bekannt wurde, äußerten Sie prompt Kritik. Warum birgt die Paarung mit Freund Rosberg Konfliktpotenzial?
Stuck: Ich habe Zweifel, dass zwei unterschiedliche Charaktere Mercedes nach vorne bringen. Die Frage ist, in welche Richtung entwickelt wird. Ein Auto, das Hamiltons Fahrtstil entspricht, passt nicht zu Nico. Wer passt sich da an? Die Konstellation ist brisant. Immerhin ist der Teamkollege, ob Freund oder nicht, der erste Konkurrent. Wenn man ihn schlägt, hat man die Mechaniker hinter sich.
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