Zieht ein Formel-1-Fahrer an der Spitze einsam seine Kreise, hat er Zeit zum Nachdenken. Zum Beispiel darüber, was seinem Sieg jetzt noch in die Quere kommen würde. Und weil die Gegner so weit zurückliegen, dass sie mehr Nebendarsteller als echte Konkurrenten sind, taugt als einziger Gefahrenherd eigentlich nur noch das eigene Auto. Entsprechend hellhörig horcht man ins Gefährt hinein. Denn: Wenn eines jetzt nicht passieren darf, dann ein technischer Defekt.
Ähnlich sensibel dürfte Charles Leclerc bei seiner Fahrt durch die Wüste gewesen sein. Er hatte das Rennen bis auf einen verpatzten Start im Griff, ließ erst Valtteri Bottas, dann Teamkollege Sebastian Vettel alt aussehen. So fuhr er mit fast zehn Sekunden Vorsprung seinem ersten Sieg in der Königsklasse entgegen.
Als er dann elf Runden vor Schluss plötzlich funkte, dass "irgendetwas seltsam am Motor" sei, durfte man also noch hoffen, dass die Fahrer-typische Übervorsicht beim Monegassen Einzug gehalten hatte. Das Märchen, dass Leclerc in seinem zweiten Formel-1-Jahr und seinem erst zweiten Rennen für Ferrari in herrschaftlicher Manier zum Triumph rasen würde, war schließlich zu schön, um so tragisch zerstört zu werden. Hoffte er. Hofften alle Tifosi dieser Welt.
Vergebens. Ein Blick auf den Zeitenmonitor verriet: Der Technikteufel hatte Leclerc tatsächlich eingeholt. Wie Ferrari bekanntgab, hatte ein Zylinder seinen Geist aufgegeben und so für einen Leistungsverlust gesorgt, der auf den Geraden einen Unterschied von bis zu 40 Stundenkilometern machte. "Oh mein Gott, was ist los?", fragte Leclerc hektisch in Richtung Kommandostand, als er mehrere Sekunden pro Runde auf den Rest des Feldes verlor.
Der Geschwindigkeitsnachteil war so groß, dass Lewis Hamilton Leclerc nicht überholte, sondern vielmehr schlicht an ihm vorbeifuhr. Gefühlt musste der amtierende Weltmeister dabei nicht einmal Vollgas geben. "Ich hob meine Hand, weil es nichts gab, was ich sonst hätte tun können. Ich hatte ja keine Schwierigkeiten. Es fühlt sich schon seltsam an, ehrlich", beschrieb der spätere Sieger den rennentscheidenden Moment.
Bahrain: Charles Leclerc lässt Sebastian Vettel alt aussehen
Dem Drama jetzt voll und ganz ausgeliefert, spekulierte Ferrari zumindest darauf, Zweiter zu werden. Doch selbst die 25 Sekunden Vorsprung auf Valtteri Bottas reichten Leclerc nicht. Der Finne schlüpfte ebenfalls durch und bescherte Mercedes damit einen unverhofften Doppelsieg.
Für Leclerc blieb nur noch der dritte Platz, den er aufgrund einer Safety-Car-Phase am Ende behauptete. "Charles hatte heute großes Pech. Er war klar der Schnellste und hätte das Rennen gewinnen müssen, aber dann sind die Dinge in eine andere Richtung gelaufen", erkannte Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff später bei Sky das eigene Glück an.
In der Tat gab es an diesem Abend keinen Zweifel darüber, wer auf dem Siegerpodest ganz oben hätte stehen sollen. Denn dass sich Ferrari nicht in anderen Welten als Mercedes und Co. bewegte, zeigte Sebastian Vettel. Der viermalige Champion hatte nach dem gewonnenen Start nur kurz in Sachen Sieg mitzureden, anschließend kämpfte er mit Hamilton um den ersten Verfolgerplatz und wurde nach einem selbstverschuldeten Dreher schließlich nur Fünfter.
Nein, es war dem fahrerischen Talent Leclercs zuzuschreiben, dass er die Konkurrenz in Bahrain düpierte.
Charles Leclerc mit ungewöhnlicher Reife
"Ich bin unheimlisch enttäuscht", gab der 21-Jährige nach der Zieleinfahrt Einblicke in sein Seelenleben, äußerte sich dann aber ausgesprochen reif für einen so jungen Fahrer: "So etwas passiert und ist Teil des Motorsports. Es ist schwer zu verdauen, aber ich danke dem Team. Es ist immer noch ein Podium, noch dazu mein erstes in der Formel 1. Darüber möchte ich mich freuen können. Wir werden gestärkt zurückkommen!"
Dass ihm das gelingt, glaubt auch Hamilton. Der Engländer drückte den Youngster aufmunternd und versprach ihm "eine große Zukunft. Du wirst noch viele Rennen gewinnen". Auch Vettel zeigte Anteilnahme und richtete noch im Team Radio aus: "Es tut mir sehr leid für Charles. Sagt ihm bitte, dass er ein hervorragendes Rennen gefahren ist. Sehr stark! Er hätte es gewinnen sollen."
Die Zukunft der Formel 1, so darf man Leclerc wohl bezeichnen, muss also noch etwas warten. Doch sein erster Sieg wird kommen, daran besteht spätestens nach seiner Pole Position und dem Rennen an diesem Wochenende kein Zweifel mehr.
Und Vettel muss sich anstrengen, wenn er Leclerc im Zaum halten möchte. Denn neben ihm fährt ein kommender Weltmeister, wie nicht nur Wolff vermutet: "Ich kenne viele andere Fahrer, die wie Charles den Löwen in sich tragen. Manch einer hätte sich nach P3 kontrovers verhalten, wäre wütend gewesen und hätte das auch gezeigt. Nicht so Charles, er ist ein bescheidener junger Mann mit guter Persönlichkeit - sehr, sehr beeindruckend. Er kann zur Bedrohung für uns werden."
Bahrain-GP: Rennergebnis:
Platz | Fahrer | Team | Zeit |
1 | Lewis Hamilton | Mercedes | 1:34:21.295 |
2 | Valtteri Bottas | Mercedes | +0:02.980 |
3 | Charles Leclerc | Ferrari | +0:06.131 |
4 | Max Verstappen | Red Bull | +0:06.408 |
5 | Sebastian Vettel | Ferrari | +0:36.068 |
6 | Lando Norris | McLaren | +0:45.754 |
7 | Kimi Räikkönen | Alfa Romeo | +0:47.470 |
8 | Pierre Gasly | Red Bull | +0:58.094 |
9 | Alexander Albon | Toro Rosso | +1:02.697 |
10 | Sergio Perez | Racing Point | +1:03.696 |