An diesem sonnigen Frühlingsmorgen des 1. Mai 1994 war Ayrton Senna ein vielbeschäftigter Mann. Die Tagesordnung hatte ihm einen straffen Ablaufplan diktiert, doch für den Brasilianer genoss jeder einzelne Spiegelstrich oberste Priorität.
Gemeinsam mit den übrigen Piloten der Formel 1 beratschlagte Senna über die Neugründung des Fahrer-Sicherheitsrats, dem er vorstehen wollte. Zuvor hatte der dreimalige Weltmeister bei einem gemeinsamen Frühstück mit Alain Prost das Kriegsbeil begraben. In diesen Stunden der Ohnmacht wurde den beiden Champions klar, wie sinnlos ihre notorischen Fehden doch gewesen waren.
Die Rivalen der Rennbahn söhnten sich aus. Es gab drängendere Bedürfnisse als das leidliche und nie enden wollende Gefecht um Egoismen und Vormacht, Siege und Titel.
Barrichello unter Fortunas Gnaden - Ratzenberger nicht
Denn es ging um Menschenleben. Der letzte Todesfall in der Formel 1 lag acht Jahre zurück, am 15. Mai 1986 war der Italiener Elio de Angelis bei Testfahrten umgekommen. Nun, im Freitagstraining zum Grand Prix von San Marino, holte Rubens Barrichello die Szene aus ihrem Gefühl der Überlegenheit. Sein Jordan mutierte zum Flugobjekt, beinahe wäre der rotierende Bolide über die Fangzäune geschleudert. Noch bewegte sich die Formel 1 im Angesicht von Fortunas Gnaden; Barrichello überstand den Abflug mit einem gebrochenen Nasenbein. Senna eilte seinem Landsmann unverzüglich zur Seite.
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Tags darauf stand die Königsklasse, diese schon damals aufgepumpte Gelddruckmaschine mit Hang zum Größenwahn, nachhaltig unter Schock. Im Qualifying verunglückte der Österreicher Roland Ratzenberger tödlich. Durch einen Schaden am Frontflügel schlug der 33-Jährige mit über 300 Stundenkilometern in die Begrenzungsmauer ein. Ratzenberger erlitt einen Genickbruch. Er hatte keine Chance.
Als Ayrton Senna die Szenen live in der Box verfolgte, drehte er sich entsetzt ab. Dann brach er in Tränen aus.
"Die Autos beginnen, gefährlich zu werden"
Der Eruption folgte die Gewissheit: Die Formel 1 musste sich ändern - radikal. Der PS-Zirkus war ein rasendes Experimentierlabor, immer am Limit, zu oft darüber hinaus. Die ständige Bedrohung saß als unsichtbarer Passagier auf dem Beifahrersitz. Es waren unhaltbare Verhältnisse, und Senna, die Koryphäe dieses wahnwitzigen Sports, forderte ein Umdenken. Bereits vor der Ratzenberger-Katastrophe hatte er vehement propagiert: "Die Autos beginnen, gefährlich zu werden. Ich mache mir Sorgen um die Sicherheit. Wir beginnen, unser Glück überzustrapazieren."
Imola 1994 geriet zum schwarzen Wochenende der Formel 1. Am Rennsonntag startete Senna von der Pole Position, seiner 65. insgesamt. In der siebten Runde verlor er die Kontrolle über den Williams und schmetterte in der Tamburello-Kurve frontal gegen die Barriere. Millionen Fernsehzuschauern stockte der Atem. Senna, der große Senna, inmitten von Rauch, Schrott und Trümmern. Es waren Sequenzen wie aus einem Horrorfilm.
Professor Sid Watkins, von 1978 bis 2004 Chefarzt der Formel 1, war sofort am Unfallort. Im Dokumentarfilm "Senna" berichtet der 2012 verstorbene Brite von seinen Eindrücken: "Senna seufzte, sein Körper entspannte sich. Ich bin nicht religiös, aber in diesem Moment hatte ich das Gefühl, seine Seele hat ihn verlassen."
Newey gesteht seinen Fehler
20 Jahre und zwei Gerichtsprozesse später ist die Unfallursache noch immer nicht verifiziert. "Ich weiß nicht, was passiert ist, das ist meine ehrliche Antwort", gesteht Adrian Newey, der als Williams-Designer für die Konstruktion verantwortlich zeichnete. Bei "auto motor und sport" aber gewährt er Einblicke: "Ich hatte mich bei der Aerodynamik des Autos verrechnet. Das Fenster an Bodenfreiheiten, in dem das Auto funktionierte, war zu klein. Ayrton klagte über Untersteuern und Übersteuern - die üblichen Symptome bei einem solchen Problem."
Newey wurde von der italienischen Justiz wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Bis zum offiziellen Freispruch plagten den Briten grobe Selbstvorwürfe. Ein Bruch der Lenksäule gilt als wahrscheinlichste Variante, doch im Grunde ist die Diskussion so müßig wie ermüdend. Heute wäre Ayrton Senna 54 Jahre alt. Tatsächlich wurde er nur 34. Kein Gericht der Welt kann diesen Fakt revidieren.
Im zerschellten Wrack wurde hinterher eine österreichische Fahne entdeckt. Noch so ein Punkt auf der Tagesordnung, den Ayrton Senna am Morgen des 1. Mai 1994 zu erledigen hatte. Vielleicht empfand er ihn als wichtigsten von allen.
Gutes tun, ohne darüber zu sprechen
Ayrton Senna da Silva war viel mehr als ein Rennfahrer. Er war Ikone, Botschafter, Mythos. Senna besaß ein Charisma, das eine unwiderstehliche und manchmal schwer zu begreifende Energie entfaltete. Seine Bewunderer nannten ihn "The Magic", den Magischen. "Senna hat es geschafft, die Fans in seinen Bann zu ziehen", weiß Ross Brawn, obwohl er nie mit Senna zusammenarbeitete.
Von Mechanikern erzählt man sich, dass sie ihre Aufgaben noch konzentrierter, noch akkurater und noch eifriger verrichteten, wenn Senna die Garage betrat. Das ist es wohl, was man unter einer Aura versteht; diese fast übersinnliche Kraft, Grenzen auszuloten, sie nicht zu überwinden - aber zu verschieben. Weiter und immer weiter. Bis zum Äußersten.
Für die einen diente Senna als Inspiration, für andere war er Vorbild, wieder andere erkannten im gelben Helm ein Symbol des Aufbruchs. Besonders in seiner brasilianischen Heimat war Ayrton Senna ein leuchtender Fixstern am meist trostlosen Firmament. Mit ihm verknüpfte eine ganze Nation die Hoffnung auf eine bessere Welt.
Senna hatte schon zu Lebzeiten ehrfurchtsvollen Legendenstatus erreicht. Weil er, der Sohn wohlhabender Eltern, sein Land liebte, aber wusste, welche Missstände vorherrschten. Weil er seine Popularität nutzte, um diese zu bekämpfen, weil er voranschritt, weil er so viel Gutes tat und so wenig darüber sprach. Und weil er den Glauben an seine Heimat, an die Südamerikaner, nicht zuletzt an sich selbst mit dem Glauben an Gott verband. Die Religion war seine Ideallinie. Gott lenkte ihn.
Stiftung für Benachteiligte
Nach Sennas Tod herrschte in Brasilien dreitägige Staatstrauer. Als sein Sarg zu Grabe getragen wurde, erwiesen ihm rund drei Millionen Menschen das letzte Geleit. Der Trauerzug wuchs auf sieben Kilometer Länge.
In Imola erinnert eine Bronzestatue an den Ausnahmepiloten. Sie ist Pilgerstätte und Wallfahrtsort, genau wie das Grab in Sao Paulo. Auch 20 Jahre danach gedenken die Brasilianer ihrem Idol in hingebungsvoller Manier. Der zweifache Formel-1-Champion Emerson Fittipaldi spürt die Sehnsucht. "Ich werde oft gefragt, wo der neue Senna bleibt. Die Antwort ist: Es wird nie wieder einen Ayrton Senna geben."
Der erste, der eine Senna, unterstützte sozial Benachteiligte, vor allem bedürftige Straßenkinder. Er leistete Hilfe, wo sie gebraucht wurde, allerdings im Verborgenen. Seine Landsleute huldigten ihm wie einen Heiligen, und sie tun es nach wie vor.
"Ayrton ist allgegenwärtig in den Herzen der Brasilianer, wegen der Werte, die er in seinem Leben und auf der Piste vorlebte: Motivation, Hingabe, Perfektion und Überwindung", sagt seine Schwester Viviane, die das Engagement in einer Stiftung bündelte. Inzwischen kümmert sich die "Ayrton Senna Foundation" um über zwei Millionen Kinder.
"Senna hat ein Problem - er glaubt, er wäre unsterblich"
Sogar Ron Dennis, nicht eben ein gefühlsbetonter Vertreter seiner Zunft, findet außergewöhnliche Worte für einen außergewöhnlichen Mann: "Er war einzigartig in vielen Dingen, speziell in seiner Hingabe. Er war unbeschreiblich zielorientiert, hatte sehr viel Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und Interesse für seine Mitmenschen." In einem zweiten Ast glorifiziert Dennis den Rennfahrer Ayrton Senna: "Seine Fähigkeiten, Subtilität und Mut waren von solchem Ausmaß, dass er seine Generation von Fahrern überragte."
In 161 Formel-1-Rennen holte Senna 41 Siege und drei Weltmeisterschaften (1988, 1990, 1991). Die Rennerei war seine Verwirklichung. "Racing", hauchte Senna einst, "ist in meinem Blut. Es ist Teil von mir, es ist Teil von meinem Leben. Das Gewinnen ist so intensiv - wie eine Droge. Wenn man das einmal erlebt hat, will man es immer wieder."
Vielleicht erklärt diese Sucht nach der ultimativen Bestätigung, dass der introvertierte, sanftmütige, fast philosophierende Senna auf der Strecke zum unbequemen Konterpart wurde. Rau, rabiat, in gewissen Situationen rücksichtslos. Sein Ehrgeiz war manisch, die erbitterten Duelle mit Alain Prost sind Legende. In zwei WM-Finals 1989 und 1990 schubsten sich die Konkurrenten gegenseitig von der Bahn, und Prost schäumte vor Wut: "Senna hat ein Problem - er glaubt, er wäre unsterblich."